Unsichtbare Bande: Erzählungen. Lagerlöf Selma
einen Schritt konnte er nach der großen Fabrikstadt machen. Ebensowenig konnte er umkehren und wieder über die lange Straße in das Städtchen wandern, nein, er schlug den Weg in die Berge ein, kletterte zum verhexten Tannenwald hinauf und irrte zwischen den steifen, stechenden jungen Bäumen umher, bis ein freundlicher Pfad ihn zum Kirchhof führte. Dort suchte er sich ein Versteck in der Ecke, wo die Tannen die Höhe eines Mastbaumes erreichen, und da warf er sich todmüde zu Boden.
Er wußte nichts von sich. Er ahnte nicht, ob die Zeit verging, oder ob alles jetzt stille stand. Aber nach einem Weilchen ertönten Schritte, und er erwachte zu halbem Bewußtsein. Es war ihm, als wäre er lange, lange fort gewesen! Nun sah er einen Leichenzug herankommen, und sogleich tauchte ein verwirrter Gedanke in ihm auf. Wie lange lag er schon da? War Edith schon tot? Suchte sie ihn hier auf? War die Tote im Sarge auf der Jagd nach ihrem Mörder? Er zitterte und bebte. Freilich lag er in dem dunkeln Tannendickicht verborgen, aber er zitterte vor dem, was geschehen wäre, wenn die Leiche ihn gefunden hätte. Er bog ein paar Zweige zurück und blickte hinaus. Ein gehetzter Flüchtling kann nicht wilder nach seinen Verfolgern ausblicken.
Der Leichenzug war der eines armen Mannes. Armselig und spärlich war das Geleit. Unbekränzt wurde der Sarg in die Gruft gesenkt. Keines der Gesichter zeigte Tränenspuren. Peter Nord hatte noch Verstand genug, um einzusehen, daß dies unmöglich Edith Halfvorsons Begräbnis sein konnte.
Aber wenn sie es auch nicht selbst war, wer weiß, vielleicht war es ein Gruß von ihr. Peter Nord fühlte, daß er nicht das Recht hatte, zu entfliehen. Sie hatte gesagt, er möge hinauf zum Friedhof gehen. Sie meinte wohl, daß er sie dort erwarten solle, damit sie ihm seine Strafe zuteil werden lassen konnte. Dieser Leichenzug war ein Gruß, ein Zeichen. Sie wollte, daß er sie dort erwartete.
Vor seinem kranken Hirn türmte sich jetzt die niedre Kirchhofsmauer so hoch wie ein Festungswall auf. Er starrte ängstlich auf das schwache Gitterpförtchen, es war wie die festeste Eichentür. Er war hier oben gefangen. Nie konnte er von hier fort, bis sie selbst kam und ihn seiner Strafe zuführte.
Was sie dann mit ihm beginnnen würde, das wußte er nicht. Nur eines war deutlich und klar. Er mußte hier warten, bis sie kam und ihn holte. Vielleicht wird sie ihn mit sich ins Grab nehmen, vielleicht wird sie ihm gebieten, sich vom Berge herunterzustürzen. Er konnte es nicht wissen – vorderhand mußte er warten.
Die Vernunft kämpfte einen verzweifelten Kampf: Du bist ja unschuldig, Peter Nord. Mache dir doch kein Herzeleid über das, was du nicht verschuldet hast. Sie hat dir keine Botschaft geschickt. Gehe hinaus zu deiner Arbeit! Erhebe den Fuß, und du bist über die Mauer, stoße mit einem Finger zu, und das Tor ist offen.
Nein, er konnte nicht. Meistens war er wie in einem Nebel, einer Betäubung. Die Gedanken kamen unklar, so wie wenn man eben im Einschlafen ist. Eines nur wußte er, er mußte bleiben, wo er war.
Nun kam die Nachricht zu ihr, die dalag und um die Wette mit den wurzellosen Birken dahinwelkte. Peter Nord, mit dem du an einem Sommertag gespielt, geht oben auf dem Kirchhof einher und wartet auf dich. Peter Nord, den dein Oheim zu Tode erschreckt hat, kann den Kirchhof nicht verlassen, bis dein blumengeschmückter Sarg heraufkommt, um ihn zu holen.
Das Mädchen schlug die Augen auf, gleichsam wie um noch einmal die Welt zu sehen. Sie schickte nach Peter Nord. Sie zürnte ihm wegen seines tollen Streiches. Warum konnte sie nicht in Ruhe sterben? Sie hatte nie gewünscht, daß er sich ihrethalben Gewissensbisse mache.
Der Bote kam ohne Peter Nord zurück. Er könne nicht kommen. Die Mauer sei zu hoch und das Tor zu stark. Nur eine könne ihn von dort fortbringen.
In diesen Tagen dachte man in der kleinen Stadt an nichts andres. „Er geht noch immer dort herum, noch immer,“ erzählte man einander jeden Tag. „Ist er verrückt?“ fragten die Leute häufig, und einige, die mit ihm gesprochen hatten, antworteten, daß er es ganz gewiß werden würde, wenn „sie“ kam. Aber sie waren sehr stolz auf diesen Märtyrer der Liebe, der ihrer Stadt Glanz verlieh. Arme Leute brachten ihm Essen. Die Reichen schlichen den Berg hinauf, um ihn wenigstens aus der Ferne zu sehen.
Aber Edith, die sich nicht vom Fleck rühren konnte, die machtlos dalag und sterben sollte, sie, die so viel Zeit zu denken hatte, womit beschäftigte sie sich wohl? Welche Gedanken wälzte sie Tag und Nacht in ihrem Hirn? Oh, Peter Nord, Peter Nord! Mußte sie nicht stets den Mann vor sich sehen, der sie liebte, der nahe daran war, um ihretwillen den Verstand zu verlieren, der wirklich, wirklich oben auf dem Kirchhof einherging und auf ihren Sarg wartete.
Sieh da, das war etwas für die Stahlfedernatur in ihr. Das war etwas für die Phantasie, etwas für entschlummernde Gefühle. Sich vorzustellen, was er anfangen würde, wenn sie hinaufkam! Sich auszumalen, was er beginnen würde, wenn sie nicht als Tote hinkam.
Sie sprachen davon in der ganzen Stadt, sprachen davon und von nichts anderm. So wie die alten Städte ihre Säulenheiligen geliebt hatten, so liebte das Städtchen den armen Peter Nord. Doch niemand ging gerne auf den Kirchhof, um mit ihm zu sprechen. Er sah immer wilder und wilder aus. Immer dichter senkte sich die Dunkelheit des Wahnsinns auf ihn herab. „Warum beeilt sie sich nicht, gesund zu werden,“ sagten sie von Edith. „Es wäre unrecht von ihr, zu sterben.“
Edith fühlte beinahe Zorn. Sie, die so fertig mit dem Leben war, sollte nun wieder die schwere Bürde auf sich nehmen müssen? Aber auf jeden Fall begann sie sich redlich zu mühen. In ihrem Körper wurde in diesen Wochen mit fieberhafter Kraft ausgebessert und instandgesetzt. Und es wurde nicht an Material gespart. In ungeheuren Massen wurde alles verbraucht, was Lebenskraft gibt, wie es auch heißen mochte: Malzextrakt oder Lebertran, frische Luft oder Sonnenschein, Träume oder Liebe.
Und was für herrliche Tage waren dies doch, lang, warm, regenlos!
Endlich erlaubte ihr der Arzt, sich hinauftragen zu lassen. Die ganze Stadt war in Angst, als sie den Weg antrat. Würde sie mit einem Wahnsinnigen zurückkommen? Konnten diese Wochen des Elends aus seinem Hirn ausgetilgt werden? Würde die Anstrengung, die sie gemacht hatte, um wieder zu leben, fruchtlos sein? Und wenn, wie würde es dann ihr selbst ergehen?
Wie sie dahinzog, blaß vor Spannung, aber doch voll Hoffnung, gab es Anlaß zur Unruhe genug. Niemand verhehlte sich, daß Peter Nord einen zu großen Raum in ihrer Phantasie eingenommen hatte. Sie war die Allereifrigste in der Anbetung dieses wunderlichen Heiligen. Alle Schranken waren für sie gefallen, als sie hörte, was er um ihretwillen litt. Doch was sollte aus ihrer Schwärmerei werden, wenn sie ihn wirklich sah? An einem Wahnsinnigen ist nichts Romantisches.
Als man sie bis an das Friedhofspförtchen getragen hatte, verließ sie die Träger und ging allein über den breiten Mittelgang. Ihre Blicke wanderten rund um den grünenden Platz, aber sie sah niemanden.
Plötzlich hörte sie ein leises Rascheln im Tannendickicht, und von dort sah sie ein wildes, verzerrtes Gesicht starren. Nie hatte sie ein Antlitz gesehen, das so deutlich den Stempel des Grauens trug. Sie erschrak selbst darüber, erschrak tödlich. Es fehlte nicht viel, so wäre sie geflohen.
Aber dann loderte ein großes, heiliges Gefühl in ihr auf. Jetzt konnte nicht mehr von Liebe und Schwärmerei die Rede sein, nur von Angst, daß ein Mitmensch, einer der Armen, die mit ihr das Jammertal der Erde durchwanderten, verloren gehen sollte!
Das Mädchen blieb stehen. Sie wich nicht einen Schritt zurück, sondern ließ ihn sich langsam an ihren Anblick gewöhnen. Aber alle Macht, die sie besaß, legte sie in den Blick. Sie zog den Mann dort an sich mit der ganzen Kraft des Willens, der die Krankheit in ihr selbst besiegt hatte.
Und er kam aus seinem Winkel, bleich, verwildert, ungepflegt. Er ging auf sie zu, ohne daß das Grauen aus seinen Zügen wich. Er sah aus, als wäre er von einem wilden Tier behext, das gekommen war, um ihn zu zerreißen. Als er dicht neben ihr stand, legte sie ihm ihre beiden Hände auf die Schultern und sah ihm lächelnd ins Gesicht.
„Sieh da, Peter Nord. Wie ist es mit Ihnen? Sie müssen von hier fort! Was meinen Sie damit, daß Sie so lange hier oben auf dem Kirchhof bleiben, Peter Nord?“
Er zitterte und sank zusammen. Aber sie fühlte, daß sie ihn mit ihren Blicken unterjochte. Ihre Worte schienen hingegen gar keine Bedeutung für ihn zu haben.
Sie schlug einen etwas andern Ton an. „Höre,