Unsichtbare Bande: Erzählungen. Lagerlöf Selma
in demselben stumpfen Entsetzen da. Wieder veränderte sich ihre Stimme. „Du hast mir nicht den Tod gebracht,“ sagte sie immer inniger, „du hast mir das Leben gegeben.“
Dies wiederholte sie einmal ums andre. Und ihre Stimme ward zuletzt bebend vor Bewegung, trübe von Tränen. Aber er verstand nichts von dem, was sie sagte.
„Peter Nord, ich habe dich so lieb, so lieb,“ rief sie aus.
Er blieb ebenso gleichgültig.
Nun wußte sie nichts mehr mit ihm anzufangen. Sie mußte ihn wohl mit in die Stadt hinabnehmen und gute Pflege und die Zeit walten lassen.
Doch wer weiß, mit welchen Träumen sie heraufgekommen war und was sie sich von dieser Begegnung mit dem, der sie liebte, versprochen hatte. Nun, wo sie alles das aufgeben und ihn nur als einen Wahnsinnigen behandeln mußte, erfüllte sie ein Schmerz, als müßte sie das Kostbarste von sich lassen, was das Leben ihr geschenkt hatte. Und in der Bitterkeit dieses Verzichtes zog sie ihn an sich und küßte ihn auf die Stirn.
Dies sollte ein Abschied von Leben und Glück sein. Sie fühlte, wie ihre Kräfte versagten. Tödliche Mattigkeit kam über sie.
Doch da glaubte sie bei ihm etwas wie ein schwaches Lebenszeichen zu merken, er war nicht mehr ganz so schlaff und stumpf. Es zuckte in seinen Gesichtszügen. Er zitterte immer heftiger, sie beobachtete alles mit immer größrer Angst. Er erwachte, aber wozu? Endlich begann er zu weinen.
Sie führte ihn zu einem Grabstein. Sie ließ sich darauf nieder, zog ihn zu sich herab und bettete sein Haupt in ihrem Schoß. So saß sie da und streichelte ihn, während er weinte.
Mit ihm ging etwas Ähnliches vor, wie wenn man aus einem bösen Traum erwacht. „Warum weine ich,“ fragte er sich. „Ach, ich weiß, ich habe so furchtbar geträumt. Aber es ist nicht wahr, sie lebt. Ich habe sie nicht gemordet. Wie töricht, über einen Traum zu weinen.“
Und so allmählich wurde ihm alles klar; doch seine Tränen flossen weiter. Sie saß da und liebkoste ihn, aber seine Tränen strömten noch lange.
„Das Weinen tut mir so wohl,“ sagte er.
Dann sah er auf und lächelte. „Ist jetzt Ostern?“ fragte er.
„Was meinst du damit?“
„Man kann es ja Ostern nennen, da die Toten auferstehen,“ fuhr er fort. Dann, als wären sie langjährige Vertraute, begann er, ihr von Frau Fastenzeit zu erzählen und von seiner Empörung gegen ihr Regiment.
„Es ist jetzt Ostern, und ihre Regierungszeit hat ein Ende,“ sagte sie.
Aber als er daran dachte, daß Edith dasaß und ihn liebkoste, mußte er wieder weinen. Es war ihm solch ein Bedürfnis zu weinen. Alles Mißtrauen gegen das Leben, das das Unglück dem kleinen Wermländer eingeflößt hatte, bedurfte der Tränen, um fortzuschmelzen. Das Mißtrauen, daß Liebe und Freude, Schönheit und Kraft nicht auf Erden blühen könnten, das Mißtrauen gegen sich selbst, alles das mußte fort. Alles das ging fort, denn es war Ostern: Die Tote lebte, und Frau Fastenzeit konnte nie mehr Macht erlangen.
Die Legende vom Vogelnest
Hatto, der Eremit, stand in der Einöde und betete zu Gott. Es stürmte, und sein langer Bart und sein zottiges Haar flatterte um ihn, so wie die windgepeitschten Grasbüschel die Zinnen einer alten Ruine umflattern. Doch er strich sich nicht das Haar aus den Augen, noch steckte er den Bart in den Gürtel, denn er hielt die Arme zum Gebet erhoben. Seit Sonnenaufgang streckte er seine knochigen behaarten Arme zum Himmel empor, ebenso unermüdlich wie ein Baum seine Zweige ausstreckt, und so wollte er bis zum Abend stehen bleiben. Er hatte etwas Großes zu erbitten.
Er war ein Mann, der viel von der Arglist und Bosheit der Welt erfahren hatte. Er hatte selbst verfolgt und gequält, und Verfolgung und Qualen andrer waren ihm zuteil geworden, mehr als sein Herz ertragen konnte. Darum zog er hinaus auf die große Heide, grub sich eine Höhle am Flußufer und wurde ein heiliger Mann, dessen Gebete an Gottes Thron Gehör fanden.
Hatto, der Eremit, stand am Flußgestade vor seiner Höhle und betete das große Gebet seines Lebens. Er betete zu Gott, den Tag des Jüngsten Gerichts über diese böse Welt hereinbrechen zu lassen. Er rief die posaunenblasenden Engel an, die das Ende der Herrschaft der Sünde verkünden sollten. Er rief nach den Wellen des Blutmeeres, um die Ungerechtigkeit zu ertränken. Er rief nach der Pest, auf daß sie die Kirchhöfe mit Leichenhaufen erfülle.
Rings um ihn war die öde Heide. Aber eine kleine Strecke weiter oben am Flußufer stand eine alte Weide mit kurzem Stamm, der oben zu einem großen, kopfähnlichen Knollen anschwoll, aus dem neue, frischgrüne Zweige hervorwuchsen. Jeden Herbst wurden ihr von den Bewohnern des holzarmen Flachlandes diese frischen Jahresschößlinge geraubt. Jeden Frühling trieb der Baum neue geschmeidige Zweige, und an stürmischen Tagen sah man sie um den Baum flattern und wehen, so wie Haar und Bart um Hatto, den Eremiten, flatterten.
Das Bachstelzchenpaar, das sein Nest oben auf dem Stamm der Weide zwischen den emporsprießenden Zweigen zu bauen pflegte, hatte gerade an diesem Tage mit seiner Arbeit beginnen wollen. Aber zwischen den heftig peitschenden Zweigen fanden die Vögel keine Ruhe. Sie kamen mit Binsenhalmen und Wurzelfäserchen und vorjährigem Riedgras geflogen, aber sie mußten unverrichteter Dinge umkehren. Da bemerkten sie den alten Hatto, der eben Gott anflehte, den Sturm siebenmal heftiger werden zu lassen, damit das Nest der kleinen Vöglein fortgefegt und der Adlerhorst zerstört werde.
Natürlich kann kein heute Lebender sich vorstellen, wie bemoost und vertrocknet und knorrig und schwarz und menschenunähnlich solch ein alter Heidebewohner sein konnte. Die Haut lag so stramm über Stirn und Wangen, daß sein Kopf fast einem Totenschädel glich, und nur an einem kleinen Aufleuchten tief in den Augenhöhlen sah man, daß er Leben besaß. Und die vertrockneten Muskeln gaben dem Körper keine Rundung, der emporgestreckte nackte Arm bestand vielmehr nur aus ein paar schmalen Knochen, die mit verrunzelter, harter, rindenähnlicher Haut überzogen waren. Er trug einen alten, eng anliegenden schwarzen Mantel. Er war braungebrannt von der Sonne und schwarz von Schmutz. Nur sein Haar und sein Bart waren licht, hatten sie doch Regen und Sonnenschein bearbeitet, bis sie dieselbe graugrüne Farbe angenommen hatten, wie die Unterseite der Weidenblätter.
Die Vögel, die umherflatterten und einen Platz für ihr Nest suchten, hielten Hatto, den Eremiten, auch für eine alte Weide, die ebenso wie die andre durch Axt und Säge in ihrem Himmelsstreben gehemmt worden war. Sie umkreisten ihn viele Male, flogen weg und kamen zurück, merkten sich den Weg zu ihm, berechneten seine Lage im Hinblick auf Raubvögel und Stürme, fanden sie recht unvorteilhaft, aber entschieden sich doch für ihn, wegen seiner Nähe zum Flusse und dem Riedgras, ihrer Vorratskammer und ihrem Speicher. Eines der Vögelchen schoß pfeilschnell herab und legte sein Wurzelfäserchen in die ausgestreckte Hand des Eremiten.
Der Sturm hatte gerade aufgehört, so daß das Wurzelfäserchen ihm nicht sogleich aus der Hand gerissen wurde, aber in den Gebeten des Eremiten gab es kein Aufhören. „Mögest du bald kommen, o Herr, und diese Welt des Verderbens vernichten, auf daß die Menschen sich nicht mit noch mehr Sünden beladen. Möchtest du die Ungebornen vom Leben erlösen! Für die Lebenden gibt es keine Erlösung.“
Nun setzte der Sturm wieder ein, und das Wurzelfäserchen flatterte aus der großen, knochigen Hand des Eremiten fort. Aber die Vögel kamen wieder und versuchten die Grundpfeiler des neuen Heims zwischen seine Finger einzukeilen. Da legte sich plötzlich ein plumper, schmutziger Daumen über die Halme und hielt sie fest, und vier Finger wölbten sich über die Handfläche, so daß eine friedliche Nische entstand, in der man bauen konnte. Doch der Eremit fuhr in seinen Gebeten fort.
„Herr, wo sind die Feuerwolken, die Sodom verheerten? Wann öffnest du des Himmels Schleusen, die die Arche zum Berge Ararat erhoben? Ist das Maß deiner Geduld nicht erschöpft und die Schale deiner Gnade leer? O Herr, wann kommst du aus deinem sich spaltenden Himmel?“
Und vor Hatto, dem Eremiten, tauchten die Fiebervisionen vom Tag des Jüngsten Gerichtes auf. Der Boden erbebte, der Himmel glühte. Unter dem roten Firmament sah er schwarze Wolken fliehender Vögel; über den Boden wälzte sich eine Schar flüchtender Tiere. Doch während seine Seele von diesen Fiebervisionen erfüllt war, begannen seine Augen dem Flug der kleinen Vögel