Unsichtbare Bande: Erzählungen. Lagerlöf Selma

Unsichtbare Bande: Erzählungen - Lagerlöf Selma


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auf, denn er fühlte es, dies war die Stadt, wo er hätte wohnen und wirken sollen. Dies war sein verlornes Paradies. Und ohne nach den andern zu fragen, ging er rasch die Straße hinauf.

      Sie folgten nach, und als sie merkten, daß es hier nur eine Straße gab, und als sie dieser entlang nur Blumen und wieder Blumen sahen, steigerte sich ihre Verachtung und ihre Heiterkeit. Es geschah vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben, daß sie Blumen Aufmerksamkeit schenkten, aber hier konnten sie nicht anders, denn die Fliedertrauben fegten ihnen die Mützen vom Kopf, und die Blätter der Kirschblüten regneten auf sie herab.

      „Was glaubt ihr, was mögen wohl in dieser Stadt für Leute wohnen?“ fragte der lange Peter nachdenklich.

      „Bienen,“ antwortete sogleich der Holzschuhpeter, der seinen Namen daher hatte, daß er einmal mit einem Holzschuhmacher in demselben Hause gewohnt hatte.

      Natürlich bekamen sie allmählich einige Menschen zu Gesicht. An den Fenstern, hinter blanken Scheiben und weißen Gardinen, zeigten sich ein paar schöne junge Gesichter, und sie sahen Kinder auf den Terrassen spielen. Aber kein Lärm störte die Stille. Es kam ihnen vor, als könnte selbst die Posaune des Jüngsten Gerichts diese Stadt nicht wecken. Was sollten sie hier anfangen!

      Sie gingen in einen Laden und kauften Bier. Da stellten sie mit rauher Stimme mehrere Fragen an den Kaufmann. Sie fragten, ob die Feuerwehr ihre Spritze in Ordnung habe und wie es wohl mit dem Schwengel der Kirchenglocke stände für den Fall, daß es zum Sturmläuten kommen sollte.

      Dann tranken sie das Bier auf der Straße aus und warfen die Flaschen fort. Eins, zwei, drei, alle Flaschen an denselben Eckstein, ein Krachen und Klirren, und alle Scherben flogen ihnen um die Ohren. Es tat ihnen förmlich wohl, wieder ein bißchen Lärm zu machen.

      Da hörten sie hinter sich Schritte, wirkliche Schritte, Stimmen, harte, deutliche Stimmen, Lachen, lautes Lachen und dazu ein Klirren wie von Metall. Sie stutzten und zogen sich in einen Torweg zurück. Das klang wie eine ganze Kompanie.

      Das war es auch. Aber eine Kompanie von jungen Mädchen. Die Dienstmägde der Stadt zogen in gesammeltem Trupp auf die Stadtweiden, um die Kühe zu melken.

      Das machte auf diese Großstädter, diese Weltbürger, den stärksten Eindruck. Dienstmädchen mit Milcheimern. Das war beinahe rührend!

      Urplötzlich traten sie aus dem Tor hervor und riefen: „Buh!“

      Die ganze Mädchenschar zerstob augenblicklich. Die Mägde kreischten und liefen davon. Die Röcke flatterten, die Kopftücher lösten sich, die Milchkübel rasselten auf die Straße.

      Und zugleich vernahm man die ganze Straße entlang dumpfe Laute von Toren und Türen, die zugeworfen wurden, von Klinken und Riegeln und Schlössern.

      Ein Stück weiter unten auf der Straße stand eine große Linde. Und darunter saß eine alte Frau an einem Tisch mit Karamels und Backwerk. Sie rührte sich nicht, sie sah sich nicht um, sie saß ganz mäuschenstill. Schlafen tat sie auch nicht.

      „Die ist aus Holz,“ sagte der Holzschuhpeter.

      „Nein, aus Ton,“ meinte der Rollpeter.

      Sie gingen alle drei in einer Reihe. Gerade vor der Alten kamen sie ins Schwanken. Sie gingen gegen sie los. Der Tisch bekam einen Puff. Und die Alte fing zu zanken an.

      „Weder Holz noch Ton,“ sagten sie, „lauter Gift und Galle.“

      Die ganze Zeit hatte Peter Nord sich gar nicht um sie gekümmert, aber jetzt waren sie endlich bei Halfvorsons Haus angelangt und da erwartete er sie.

      „Es läßt sich wohl nicht in Abrede stellen, daß das meine Angelegenheit ist,“ sagte er stolz, und wies auf den Laden. „Ich will allein hineingehen und die Sache abmachen. Bringe ich es nicht zuwege, so könnt ihr euer Glück versuchen.“

      Sie nickten. „Geh du nur, Peter Nord! Wir warten hier draußen.“

      Peter Nord trat in den Laden, fand dort einen jungen Mann allein und fragte nach Halfvorson. Er bekam sogleich den Bescheid, daß dieser verreist war. Da fing er ein Gespräch mit dem Ladendiener an und erfuhr so mancherlei über seinen Herrn.

      Halfvorson war wegen des Branntweinhandels gar nicht angeklagt worden. Wie er sich gegen Peter Nord benommen hatte, das wußte die ganze Stadt. Aber niemand sprach jetzt mehr von der Geschichte. Halfvorson hatte es weit gebracht, und jetzt war er nicht mehr so bösartig. Er war nicht mehr unbarmherzig gegen seine Schuldner und hatte aufgehört, dem Ladenjungen aufzulauern. In den allerletzten Jahren hatte er sich auf die Gärtnerei geworfen. Er hatte rings um das Haus in der Stadt einen Blumengarten angelegt und einen Küchengarten draußen vor dem Stadttor. Jetzt arbeitete er so eifrig in seinen Gärten, daß er kaum mehr daran dachte, Geld zu sammeln.

      Peter Nord gab es einen Stich ins Herz. Natürlich war der Mann gut. Er hatte im Paradies bleiben dürfen. Natürlich wurde man gut, wenn man hier wohnte.

      Edith Halfvorson lebte noch beim Onkel, aber sie war jetzt krank. Seit sie im Winter die Lungenentzündung gehabt hatte, war ihre Brust schwach.

      Während Peter Nord sich dies und noch mehr erzählen ließ, standen die drei Männer draußen und warteten.

      In Halfvorsons schattenlosem Garten hatte man eine Birkenlaube errichtet, damit Edith sich dort an den schönen, warmen Frühlingstagen aufhalten konnte. Sie kam nur langsam wieder zu Kräften, aber für ihr Leben bestand keine Gefahr mehr.

      Bei einigen ist es so, daß man glauben muß, sie wollen nicht leben. Bei der ersten Krankheit, die sie befällt, legen sie sich hin, um zu sterben. Halfvorsons Nichte war schon längst aller Dinge müde, des Kontors, des kleinen trüben Ladens, des Gelderwerbes. Als sie siebzehn Jahre alt war, reizte es sie, sich einen vornehmen Verkehr und einen guten Freundeskreis zu erkämpfen. Dann setzte sie sich das Ziel, Halfvorson auf den Weg der Tugend zu bringen, aber jetzt war alles erreicht. Sie sah keine Möglichkeit, aus dem Einerlei des Kleinstadtlebens herauszukommen. Sie wollte gerne sterben.

      Sie war eine der elastischen, eine der Stahlfedernaturen. Nichts als Nerven und Lebendigkeit, wenn etwas sie drückte und quälte. Wie hatte sie sich doch mit List und Verstellung, mit weiblicher Güte und weiblichem Trotz gemüht, bis sie ihren Oheim dahin gebracht hatte, einzusehen, daß weitre Peter Nord-Geschichten nicht mehr vorkommen dürften! Aber jetzt war er zahm und gebändigt, und sie hatte nichts mehr, was sie fesselte. Ja, und nun sollte sie doch nicht sterben! Sie lag da und dachte nach, was sie anfangen sollte, wenn sie gesund wurde.

      Plötzlich fuhr sie zusammen. Jemand hatte sehr laut gesagt, er wolle allein zu Halfvorson gehen und seine Angelegenheit mit ihm abmachen. Und dann antwortete ein andrer: „Geh du nur, Peter Nord!“

      Aber Peter Nord war ja der furchtbarste, der unglückseligste Name auf der Welt. Er bedeutete ja ein Wiedererwachen aller der alten Abscheulichkeiten. Edith richtete sich bebend auf, und gerade da kamen drei unheimliche Gestalten um die Ecke und stellten sich vor sie hin und starrten sie an. Nur ein niedriges Staket und eine dünne Hecke lag zwischen ihr und der Straße.

      Edith war allein. Die Mägde waren zum Melken gegangen, und Halfvorson arbeitete in seinem Garten vor der Stadt, obgleich er dem Ladenjungen aufgetragen hatte, zu sagen, daß er verreist sei, denn er schämte sich seiner Gärtnermarotte. Edith fürchtete sich schrecklich vor den drei Männern sowie vor dem, der in den Laden gegangen war. Sie war überzeugt, daß sie ihr etwas zuleide tun wollten, und darum begann sie über die schlüpfrigen, steilen Pfade und die kleinen, morschen Holzstufen, die von Terrasse zu Terrasse führten, den Berg hinaufzulaufen.

      Den fremden Männern war es ein Hauptspaß, daß sie vor ihnen davonlief. Sie konnten es sich nicht versagen, sich so zu stellen, als wenn sie sie einholen wollten. Einer von ihnen kletterte auf das Staket, und alle drei brüllten mit furchtbarer Stimme.

      Edith lief, so wie man im Traume läuft, keuchend, strauchelnd, in Todesangst, mit der entsetzlichen Empfindung, nicht von der Stelle zu kommen. Alle erdenklichen Gefühle stürmten auf sie ein und erschütterten sie so sehr, daß sie glaubte sterben zu müssen. Ja, wenn einer dieser Kerle sie nur mit der Hand berührte, wußte sie, daß sie sterben mußte. Als sie die oberste Terrasse erreicht hatte und es wagte, sich umzusehen, merkte sie, daß die Männer unten auf der Straße


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