Unsichtbare Bande: Erzählungen. Lagerlöf Selma

Unsichtbare Bande: Erzählungen - Lagerlöf Selma


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daß man ihm Gewissen und Seelenruhe opferte?! Als ob er soviel wert wäre wie eine weiße Maus, wenn man dabei nicht vergnügt sein durfte! Er klaschte in die Hände und rief jubelnd: „Frei, frei, frei!“ Nicht die leiseste Sehnsucht, den Fünfzigkronenschein zu besitzen, war mehr in seiner Seele. Wie gut war es doch, glücklich zu sein.

      Als er sich niedergelegt hatte, nahm er sich vor, Halfvorson zeitig am nächsten Morgen die fünfzig Kronen zu zeigen. Dann aber bekam er Angst, daß der Krämer am nächsten Tag vor ihm in den Laden kommen, den Schein suchen und ihn finden könnte. Dann würde er wohl glauben, daß Peter Nord ihn versteckt hatte, um ihn zu behalten. Dieser Gedanke ließ ihm keine Ruhe. Er versuchte sich ihn aus dem Sinne zu schlagen, aber es gelang ihm nicht. Er konnte nicht einschlafen. Da stand er auf, schlich sich leise in den Laden und tastete nach dem Fünfzigkronenschein. Dann schlummerte er süß ein mit der Banknote unter dem Kopfkissen.

      Eine Stunde später wurde er geweckt. Ein greller Lichtschein fiel ihm blendend in die Augen, eine Hand griff suchend unter sein Kopfkissen und eine grollende Stimme zankte und fluchte.

      Ehe noch der Knabe recht wach war, hatte Halfvorson schon die Banknote in der Hand und zeigte sie zwei Frauen, die in der Tür zum Verschlage standen. „Seht ihr, daß ich recht hatte,“ sagte Halfvorson, „seht ihr, daß es der Mühe wert war, euch zu wecken und als Zeuginnen mitzunehmen. Seht ihr, daß er ein Dieb ist!“

      „Nein, nein, nein,“ schrie der arme Peter Nord. „Ich wollte nicht fehlen. Ich habe den Schein ja nur aufgehoben.“

      Halfvorson hörte ja nichts. Die beiden Frauen standen mit dem Rücken zum Verschlage, wie fest entschlossen, weder zu hören noch zu sehen.

      Peter Nord hatte sich im Bette aufgesetzt. Er sah mit einem Male jämmerlich schwach und klein aus. Seine Tränen strömten. Er jammerte laut.

      „Onkel,“ sagte Edith, „er heult.“

      „Laß ihn heulen!“ sagte Halfvorson, „laß ihn nur heulen!“ Und er trat näher und sah den Knaben an. „Kann mir schon denken, daß du heulst, mein Lieber,“ sagte er. „Aber das verfängt bei mir nicht.“

      „Oh, oh!“ rief Peter Nord, „ich bin kein Dieb. Ich habe den Schein nur zum Spaß versteckt – um Sie zu ärgern. Ich wollte Sie wegen der Mäuse strafen. Ich bin kein Dieb. Kann niemand mich hören? Ich bin kein Dieb.“

      „Onkel,“ sagte Edith, „hast du ihn jetzt genug gequält, können wir vielleicht gehen und uns niederlegen?“

      „Ich kann mir schon denken, daß sich das greulich anhört,“ sagte Halfvorson, „aber da läßt sich nichts machen.“ Er war ganz munter, förmlich ausgelassen. „Ich habe lange ein Auge auf dich gehabt, mein Lieber,“ sagte er zu dem Knaben. „Immer hattest du irgend etwas wegzustecken, wenn ich in den Laden kam. Aber jetzt bist du ertappt. Jetzt habe ich Zeugen gegen dich, und jetzt hole ich die Polizei.“

      Der Junge stieß einen gellenden Schrei aus. „Kann mir denn niemand helfen, kann mir denn niemand helfen?“ rief er. Aber nun war Halfvorson schon verschwunden, und die Frau, die dem Haushalt vorstand, kam auf ihn zu.

      „Geschwind, aufgestanden und in die Kleider, Peter Nord! Halfvorson holt die Polizei und indessen kannst du dich davonmachen. Das Fräulein geht wohl in die Küche und packt dir ein bißchen Proviant ein. Ich will unterdessen deine Sachen zusammensuchen.“

      Das furchtbare Weinen hörte sogleich auf. Nach einem kleinen Weilchen war der Junge fertig. Er küßte den beiden Frauen die Hand, demütig wie ein geschlagner Hund. Und dann eilte er fort.

      Sie blieben in der Tür stehen und sahen ihm nach. Als er verschwunden war, seufzten sie erleichtert auf.

      „Was wird Halfvorson jetzt sagen?“ sagte Edith.

      „Er wird ganz froh sein,“ antwortete die Haushälterin. „Er hat das Geld dem Knaben absichtlich hingelegt, glaube ich. Er wollte ihn nur los sein.“

      „Warum denn? Der Junge war doch der beste, den wir seit Jahr und Tag im Laden gehabt haben.“

      „Er wollte ihn wohl bei der Branntweingeschichte nicht zum Zeugen haben.“

      Edith stand stumm da und atmete heftig. „Wie gemein, wie gemein,“ murmelte sie. Sie ballte die Fäuste gegen das Kontor und gegen das kleine Guckloch in der Tür, durch das Halfvorson in den Laden sehen konnte. Sie hatte selber nicht übel Lust, von all dieser Niedrigkeit fort in die Welt zu fliehen.

      Ganz rückwärts im Laden hörte sie ein Geräusch. Sie lauschte, trat näher, ging dem Tone nach und fand endlich hinter einer Heringstonne den Käfig mit Peter Nords weißen Mäusen.

      Sie hob ihn auf, stellte ihn auf den Ladentisch und öffnete das Türchen. Maus um Maus eilte heraus und verschwand hinter Kisten und Tonnen.

      „Möget ihr gedeihen und euch vermehren,“ sagte Edith, „laßt mich sehen, daß ihr Schaden anrichtet und euern Herrn rächt.“

      II

      Freundlich und zufrieden lag das kleine Städtchen unter seinem roten Berg da. Es war so in Grün eingebettet, daß der Kirchturm noch gerade daraus hervorragte. Garten an Garten kletterte auf schmalen Terrassen die Anhöhen hinan, und wenn sie nach dieser Richtung nicht weiter konnten, stürzten sie sich mit Sträuchern und Bäumen quer über die Straße und breiteten sich zwischen den zerstreuten Häusern und dem schmalen Erdstreif darunter aus, bis der breite Fluß ihnen Halt gebot.

      In der Stadt war es ganz still und stumm. Kein Mensch war zu sehen, nur Bäume und Sträucher und hie und da ein Haus. Das einzige Geräusch, das man hörte, war das Rollen der Kugel über die Kegelbahn, und das klang wie ferner Donner an einem Sommertag. Es gehörte mit zu der Stille.

      Doch jetzt knirschte das holprige Steinpflaster des Marktes unter genagelten Absätzen. Der Laut grober Stimmen schlug an die Wand des Rathauses und der Kirche, hallte vom Berg wider und eilte unbehindert die lange Straße hinab. Vier Wanderer störten die Vormittagsruhe.

      Ach, die süße Stille, der jahrelange Feierfriede! Wie erschraken sie! Man konnte förmlich sehen, wie sie die Bergpfade hinaufflüchteten.

      Einer der Lärmenden, die in das Städtchen einbrachen, war Peter Nord, der Junge aus Wermland, der vor sechs Jahren des Diebstahls bezichtigt aus der Stadt geflohen war. Die mit ihm gingen, waren drei Tagediebe aus der großen Handelsstadt, die nur ein paar Meilen entfernt lag.

      Wie war es dem kleinen Peter Nord ergangen? Gut war es ihm ergangen. Er hatte den allervernünftigsten Freund und Begleiter gefunden.

      Als er an jenem dunklen, regenschweren Februarmorgen aus dem Städtchen fortlief, da sangen und klangen die Polkamelodien ihm im Ohre. Und eine von ihnen war hartnäckiger als alle andern.

      Es war die, die sie alle beim großen Rundtanz gesungen hatten:

      Nun ist es wieder Weihnachtsfest,

      Ja, ja, Weihnachtsfest.

      Und dann ist Ostern nicht mehr weit,

      Doch leider, leider ists nicht so,

      Nein, nein, ists nicht so,

      Nach Weihnacht kommt die Fastenzeit.

      Das hörte der kleine Flüchtling so deutlich, so deutlich. Und damit drang die Weisheit, die in dem alten Reigen verborgen liegt, in den kleinen genußsüchtigen Wermländerjungen ein, drang in jede Fiber, vermischte sich mit jedem Blutstropfen, nistete sich in Hirn und Mark ein. So ist es, so ist es gemeint … Zwischen Weihnachten und Ostern, zwischen den Festen der Geburt und des Todes kommt die Fastenzeit des Lebens. Vom Leben soll man nichts verlangen. Es ist eine arme kalte Fastenzeit. Man darf ihm nie glauben, wie es sich auch verstellen mag. Im nächsten Augenblick ist es wieder grau und häßlich. Kann nichts dafür, das arme Ding, versteht es nicht besser!

      Und Peter Nord war beinahe stolz, daß er dem Leben sein tiefstes Geheimnis abgelauscht hatte.

      Und er glaubte, die gelbe, bleiche Frau Fastenzeit in Bettlergestalt, die Aschenrute in der Hand, über die Erde schleichen zu sehen. Und er hörte, wie sie ihn anknurrte: „Du wolltest das Fest der Freude und der fröhlichen Laune mitten in jener Fastenzeit


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