Das Schweigen im Walde. Ganghofer Ludwig
sich um das Grautier zu kümmern, sah die Reiterin zu den leuchtenden Wipfeln auf, und für nichts anderes schien sie Augen zu haben als für das brennende Farbenspiel der abendlichen Lüfte. Aus diesem Schauen erwachte sie erst, als das Tier, talabwärts schreitend, wieder in den Schatten des Waldes trat. Mit ruhiger Hand lenkte sie den Grauen zwischen den bemoosten Felsblöcken zu einer breiteren Waldgasse. Dann wieder begann sie das träumende Schauen, mit einem Lächeln, so innerlich und wissend, als vernähme sie aus dem Schweigen des Waldes eine Stimme, die kein anderer hörte und verstand, nur sie allein.
Das Grautier stutzte. Und da gewahrte die Reiterin den Einsamen. Nicht erschrocken, nur verwundert, machte sie mit dem Zügel eine Bewegung, verhielt das Tier und betrachtete den Regungslosen mit einem Blick, der zu fragen schien: Wer bist du? Was hast du in meinem Wald zu schaffen?
Und was für Augen sie hatte! Groß und klar und seetief. Recht die Augen, wie das Märchen sie hat!
Der Blick dieser Augen verwirrte den schauenden Träumer. Halb sich aufrichtend griff er nach der Mütze.
Da nickte die Reiterin einen stummen Dank – unter einem Lächeln, als hätte seine Verwirrung auch ihr sich mitgeteilt – und mit leisem Zuruf brachte sie das Grautier in Gang.
Er sah ihr nach. Wie der schlanke Leib beim Auf- und Niedersteigen des Tieres sich elastisch bewegte, wie sie sich neigte und das Köpfchen bald zur Rechten und bald zur Linken beugte, um den dürren Ästen auszuweichen – wieviel Schönheit lag in dieser Bewegung! Als sie talwärts ritt und zwischen den Stämmen schon zu verschwinden drohte, erhob sich der Fürst, um sie noch einmal zu sehen. Jetzt verschwand sie im Dämmerschatten des tieferen Waldes. Manchmal war noch ein gedämpfter Tritt des Tieres zu hören, immer ferner, immer leiser. Dann wieder Schweigen im Wald.
Die Drossel schlug.
Der Fürst hörte sie nicht. Er stand an die Fichte gelehnt und blickte der Tiefe des Waldes zu, wo es grauer und immer grauer wurde zwischen den Stämmen.
»Wo hab ich nur diese Augen schon gesehen?«
Er sann und forschte. Dann plötzlich fiel es ihm ein: auf einem Bild!
»Seltsam! Wie der phantastische Traum eines Künstlers sich in Wirklichkeit erfüllen kann!«
Aufatmend hob er den Blick zu den Wipfeln, deren Glanz erloschen war.
»Es dunkelt?«
Das klang wie eine erstaunte Frage – als könnte er nicht begreifen, daß jetzt die Nacht beginnen sollte.
Ohne zu wissen, daß er es tat, stieg er durch den grauen Wald bergaufwärts der Richtung zu, aus der die Reiterin gekommen war. Kaum hundert Schritt hinter der Lichtung fand er einen breiten Pfad, der zur Höhe führte – man sah im Dunkel des Waldes die steigenden Serpentinen schimmern.
»Von dort oben kam sie?«
In der Höhe des Waldes meinte er einen Schritt zu hören. Er lauschte. Aber da war's wieder still.
»Ist jemand hier?«
Nur ein dumpfes Echo gab Antwort.
Eine Weile noch stand der Fürst und lauschte. Dann stieg er den Pfad hinunter, der nach kurzer Strecke in den am Ufer des Wildbaches laufenden Talweg einmündete. Hier stand ein Wegweiser, dessen Arm zur Höhe zeigte, von welcher der Fürst gekommen war. Mit einiger Mühe entzifferte er bei der sinkenden Dämmerung die Inschrift: »Zum Steinernen Hüttl.«
Da hörte er eine rufende Stimme: »Durchlaucht!«
»Martin! Hier!«
Der Lakai kam atemlos gerannt. »Gott sei Dank! Ich war schon in Sorge, daß Durchlaucht sich verirrt hätten.«
»Ich danke, Martin. Aber deine Sorge war überflüssig. Mich verirren? Hier? Das ist unmöglich. Rechts und links die Berge. Man hat nur dem Bach zu folgen. Du brauchst mir ein andermal nicht wieder nachzugehen. Ich finde schon meinen Weg.«
Martin verneigte sich stumm und blieb zehn Schritte hinter seinem Herrn zurück.
Zweites Kapitel
Der letzte Dämmerschein des Abends war erloschen, und über dem Jagdhaus lag eine sternschöne Nacht.
Im Wohnzimmer des Fürsten standen die Fenster offen, und die Lampenhelle warf rötliche Lichtbänder über das dunkle Almfeld hinaus. Das Gebimmel der Glocken war verstummt, doch in Burgis Sennhütte ging es noch lustig zu; Schwatzen und Lachen wechselte mit Gesang und Zitherspiel.
In einem Lehnstuhl saß der Fürst am offenen Fenster, und während er den Rauch der Zigarette vor sich hinblies, lauschte er bald dem unermüdlichen Frohsinn, der durch die Nacht zu ihm heraufklang, bald wieder blickte er sinnend über die schwarzen Wipfel hinüber zu den Felswänden, die sich grau emporhoben in das tiefe Stahlblau des Himmels. Wie stark und feurig in der reinen Höhenluft die Sterne funkelten! Als wären es andere, schönere Sterne als jene, die man dort unten sieht, in der staubigen Ebene und im Ruß der Stadt!
Tief atmend erhob sich der Fürst. Ein paarmal wanderte er durch das Zimmer, dann setzte er sich an den Schreibtisch, um einen Brief zu beginnen:
Ich danke Dir von Herzen! Und ich kann nicht schlafen gehen, bevor ich Dir das nicht gesagt habe. Als meine Ärzte befahlen: drei Monate nach dem Süden und dann ungestörte Ruhe in reiner Höhenluft! – und als Du sagtest: Bis du wiederkommst, will ich für dich einen Fleck Erde aussuchen, der dir Ruhe gibt! – da wußt' ich schon, wie gut Du für mich sorgen würdest. Aber heute hab' ich mehr gefunden, als ich selbst bei einer ungebührlichen Rechnung auf Deine Freundschaft erwarten konnte. Welch ein schönes Waldheim hast Du mir da bereitet! Und Dank für die behagliche Stube! In ihr sitz' ich und schreibe. Ich habe mich hier daheim gefühlt von der ersten Stunde an. Und so viel Ruh ist hier! Sie beginnt auch schon zu wirken. Kein Brennen meiner Wunde mehr. Und wenn mich eins noch quält, so ist es Bitterkeit gegen mich selbst.
Von einem kalten Grauen durchrieselt, betrachte ich den Taumel, der mich ausgestoßen, und atme auf. Jetzt fühl ich mich erlöst von der letzten Kette dieser wahnsinnigen Leidenschaft. Jetzt bin ich frei.
Frei! Könntest Du dieses kleine Wort so lesen, wie ich es im Niederschreiben fühle! Frei! Das war ich noch gestern nicht. Noch weniger in den Tagen zuvor. Diese Irrfahrtswochen im Süden! Der Ekel schüttelte mich bis auf die Knochen. Doch mitten im bitteren Nachgeschmack immer wieder eine Erinnerung, die sich wie Sehnsucht fühlte! Dann fragte ich mich erschrocken: lieb' ich sie noch, kann ich sie denn noch lieben? Dazu diese Menschen, diese Begegnungen! Als hätte sich unser ganzer Kreis von zu Hause systematisch über meine Reiseroute verteilt, um mich zu martern. In Capri, Amalfi, Rom, Bordighera, überall lief mir einer über den Weg, und die erste Frage war immer eine Frage nach ihr! Man wird in unserer guten Gesellschaft durch keine Großtat so berühmt, als wenn man sich vergißt und vom sauberen Bürgersteig des Lebens hinuntertappt in die Gosse.
Heute früh noch, bei der Abfahrt, in Innsbruck, wer steht vor mir? Der Edle von Sensburg! Der ›kleine süße Mucki‹! Du weißt, wer ihn so zu rufen liebte. Und seine erste Frage: ›Vous seul, mon prince?‹ Ich hätte ihn mit der Faust ins Gesicht schlagen mögen.
Und als er mir's abgequetscht hatte, wohin ich ging, schien er auf eine Einladung zur ›Gamsjagd‹ zu warten – er sagt natürlich nicht Gemse, sondern ›Gams‹, immer echt, der kleine süße Mucki! Während der ganzen Fahrt verfolgte mich sein Kattungesicht, und immer roch ich seine peau d'Espagne – er hatte, während er mit mir sprach, den Arm auf die Wagenlehne gestützt. Um das Parfüm loszuwerden, nahm ich mir in Leutasch eine Bauernkutsche. Es half nicht. Nun quälte mich die Erinnerung an die Tage und Nächte, die ich mit diesem Menschen verbringen mußte, weil sie es als lustigen Sport betrachtete, ihren scheckigen Narren aus ihm zu machen. Ach, zum Teufel mit dem ganzen Ekel! Ich bin ihn doch los, bin erlöst, bin frei! Seit heute, seit ich hier bin! Und ich fühl' es wie ein Wunder, das an mir gewirkt wurde. Der Wald aus seinem schönen Schweigen hat zu mir gesprochen: sieh, wie ruhig ich bin, sei du es auch! Und ich hab's gehört, verstanden und befolgt.
Wie ganz genesen ich bin, mag Dir beweisen, daß ich fragen kann: ›Hast Du schon mit ihr