Das Schweigen im Walde. Ganghofer Ludwig
meine glatte Straße gehen und mir ein temperiertes ›Glück‹ mit ruhiger Überlegung schaffen können, um Sommer für Sommer als guter Mann meiner guten Frau kohlbauend auf meinem Gute zu sitzen und während des Winters in der Stadt keine Opernpremiere, keinen Rout und keinen Hofball zu versäumen. Der Gedanke, daß solch ein ›wohlgeordnetes‹ Glück mich hätte treffen können, weckt in mir ein gelindes Grauen. Dennoch steckt in mir ein schmerzliches Bedauern, daß es nicht so kam! Aber wenn ich es ›so gut‹ gefunden hätte? Wäre dieses windstille Treibhausglück von Dauer gewesen? Bis zu einem sanften, in Gott ergebenen Lebensabend? Vielleicht hätte sich auch dann einmal in dunkler Stunde das Blut meines Vaters in mir geregt, um die gläserne Herrlichkeit in Scherben zu schlagen, irgendeinem Unwert oder einer Häßlichkeit zuliebe?
Mein Vater! – Das Wort ist kalt für mich. Als mein Vater jenen tödlichen Sturz auf der Rennbahn tat, war ich noch ein halbes Kind. Sein Tod hatte keinen Schmerz für mich, nur einen Schreck, den ich halb verstand, als ich einen unserer Gäste sagen hörte: ›Der gute Ettingen hat sich den Hals recht à propos gebrochen, sonst hätte er noch seinen Namen und seinen Besitz, seine Frau und seinen Jungen in den Sumpf geritten!‹ Dieses böse Wort brachte das eine Gute, daß ich mich noch zärtlicher an die Mutter anschloß, wie in der Ahnung, daß meine Liebe sie vor einem Leid zu beschützen hätte. Weiß Gott, lieber Freund, es geht mir warm durchs Herz, wenn ich mir sage: ich habe meiner Mutter, solange sie lebte, keine Enttäuschung bereitet. Sie konnte lächelnd die Augen schließen und sterbend glauben, daß sie in ihrem Sohn ein wohlgebautes Werk ihrer Liebe und ihres Lebens hinterließe.
Und nun? Wie steht es vor Dir, dieses Werk meiner Mutter? In meiner Seele sieht es aus wie in den löcherigen Taschen eines Bettlers. Ich hätte leben sollen als meiner Mutter Sohn und hab's meinem Vater nachgetan. Übel hat mich bei diesem Rennen um das Glück das zügellose Tier meiner Leidenschaft in den Sand geworfen! Sand? Wie höflich das Wort gewählt ist! Wohl hab ich mich leidlich wieder aufgerichtet. Aber ich spüre den Sturz an Leib und Seele. Und da konnt' ich vor einer halben Stunde noch schreiben: ich bin genesen, ich fühle mich frei. Nein! Ich bin es nicht. Oder weiß ich nur die quälende Stimmung dieses Augenblickes nicht klar zu erkennen?
Was mich mit so brennender Unruhe bedrückt? Eine letzte Kette, die mich noch fesselt an das Vergangene? Nein! Es kann auch das Grauen sein – vor der Leere und dem Unwert meines kommenden Lebens! Eine heiße Sehnsucht, die begehrt und dennoch weiß, daß sie unstillbar ist! Heiliges Glück – das ist Finden auf reinem Weg. Wer durch Sumpf gewatet ist, darf keinen Tempel mehr betreten.
Ein böser Gedanke! Der hätte mir nicht kommen sollen! Ich will's versuchen, ihn wieder aus mir hinauszustoßen, will zufrieden sein, nur weil ich einsam bin, stadtferne und mir selbst gegeben. Und wie häßlich auch das Leben ist, dem ich entfloh und das mich erwartet – schön ist doch die sommerduftende Stille, in der ich hier atme. Schön ist die Nacht, die da draußen mit großen Sternen leuchtet. Schön ist das tiefblaue Rätsel des schlafenden Himmels und das graue Wunder der nachtverschleierten Berge!
Hättest Du nur den Abend gesehen, der dieser Nacht voranging! Aber solche Schönheit läßt sich nur fühlen, nicht mit Worten sagen! Und wie sicher vor allen bösen Gedanken, wie ruhig war ich, als ich einsam da draußen unter den alten Bäumen saß!«
Da stockte dem Schreibenden die Feder. Er lehnte sich in den Stuhl zurück und blickte nach dem offenen Fenster, in dessen Rahmen sich der schwarzgezahnte Wipfelkamm des nahen Waldsaumes und darüber ein Stück des stahlblauen Himmels mit zwei funkelnden Sternen zeigte.
So saß er eine Weile. Dann schüttelte er unter leisem Lächeln den Kopf – und begann wieder zu schreiben:
»Die schöne Ruhe, die ich draußen gefunden habe, überkommt mich wieder! Ein Trost für die Nacht – ich glaube, daß ich schlafen werde.
Nun Gott befohlen, lieber Goni! Wüßt' ich nicht, daß Du in der Stadt bleibst, um als Freund für mich zu handeln, so würd' ich Dir schreiben: komm, und laß uns die Schönheit teilen, die mich hier umgibt! Aber ich hoffe doch, daß dieser unbehagliche Freundschaftsdienst Dich nicht allzulange zurückhalten wird und daß ich Dich bald bei mir begrüßen kann. Mit diesem Herzenswunsche bin ich Dein
Der Fürst schloß den Brief und schrieb die Adresse: »Graf Egon von Sternfeldt – Wien.« Er wollte dem Diener läuten, doch lächelnd nahm er den Brief noch einmal aus dem Kuvert.
»Als Nachschrift eine Bitte. Ein Zufall hat mich heut an Arnold Böcklins Bild ›Das Schweigen im Walde‹ erinnert. Du kennst das Bild: auf dem Einhorn reitet die weiße Waldfee unter den Bäumen, mit großen Märchenaugen, und lauschend, als hätte das Waldschweigen redende Stimmen, die kein Menschenohr vernimmt, nur sie allein. Schon vor drei Jahren, als ich das Bild in einer Ausstellung sah, hätt' ich es gerne gekauft. Es hatte schon seinen glücklichen Besitzer.
Wie schade! Nun sind Erinnerung und Wunsch in mir wieder wach geworden. Aber wer einen solchen Schatz besitzt, überläßt ihn keinem anderen. Ich werde mich mit einer Reproduktion begnügen müssen. Willst Du mir die besorgen? Einen Stich oder eine Radierung. Willst Du? Ja? Meinen Dank im voraus.
Der Fürst siegelte den Brief und läutete dem Diener, dann trat er ans offene Fenster.
Drunten in der Sennhütte ging es lustig zu. Der Wein schien in den Köpfen der Jäger seine Wirkung zu üben, ihre fröhliche Stimmung hatte sich in wirres Kreischen und Lachen aufgelöst. Das schwieg zuweilen. Dann klang's wieder auf. Und der Übermut dieser konfusen Stimmen hörte sich seltsam an in der schwarzen, schweigenden Einsamkeit der Bergnacht.
Der Lakai trat in das Zimmer. »Durchlaucht befehlen?«
»Dort liegt ein Brief. Hast du dich schon erkundigt, wie die Post besorgt wird?«
»Die Leutascher Jäger sind noch hier. Einer von ihnen wird den Brief zur Besorgung übernehmen. Von morgen an wird ein regelmäßiger Postdienst eingerichtet.«
Der Fürst nickte und ging zur Tür des Schlafzimmers; als ihm der Lakai folgen wollte, sagte er: »Danke, Martin, geh nur, ich brauche dich nicht mehr.«
Von der Sennhütte klang eine Lachsalve herauf, so toll und lärmend, daß der Fürst aufblickte.
Martin runzelte die Stirn. »Ich werde die Leute sofort zur Ruhe verweisen.«
»Nein! Laß sie nur! Sie sollen sich amüsieren, solang es ihnen Freude macht. Ich werde deshalb nicht schlechter schlafen. Morgen früh sieben Uhr das Bad. Für neun Uhr hab' ich den Förster zum Frühstück gebeten. Gute Nacht!« Der Fürst trat in das Schlafzimmer und zog hinter sich die Tür zu.
Martin schloß die beiden Fenster; dann glitt er lautlos auf den Schreibtisch zu. Er nahm den Brief, las die Adresse und lächelte. Vorsichtig, um das Siegel nicht zu verletzen, drückte er den Brief an den Kanten zusammen, so daß sich die Klappe des Kuverts ein wenig ausbauchte. Da konnte er ein paar Worte lesen: » – heut an Arnold Böcklins Bild ›Das Schweigen im Walde‹ erinnert. Du kennst das Bild; auf dem Einhorn reitet – «
Beruhigt schob Martin den Brief in die Brusttasche und blies auf dem Schreibtisch die Lampe aus.
Drittes Kapitel
In der Sennhütte schien die weinfröhliche Stimmung in bedenkliche Wärme zu geraten. Man hörte zwei streitende Stimmen, neben einem rauhen Baß den kräftigen Tenor des Praxmaler-Pepperl. Aber die beiden Gegner schienen ihre Fehde nicht sonderlich ernst zu nehmen. Ihr Zankduett löste sich bald wieder in Gelächter auf, die Gläser klapperten, und ein übermütiger Jauchzer tönte in die stille Nacht hinaus.
Förster Kluibenschädl, der in einem der Jägerhäuschen noch lesend bei einer trüb brennenden Petroleumlampe saß, tat beim Hall dieses Jauchzers einen tiefen Zug aus der Pfeife, ohne zu merken, daß sie schon erloschen war, und las mit erregter Spannung weiter. Sein rundes Gesicht glühte, obwohl die Sommernacht nicht allzu schwül und der eiserne Sparherd, auf dem er sich zum Nachtmahl den gewohnten Schmarren bereitet hatte, schon längst erkaltet war. Förster Kluibenschädl war ein Freund literarischer Genüsse, hatte eine unglückselige Leidenschaft für »schöne Bücheln«, dazu eine leicht zu rührende Seele,