Schöpfungen der Ingenieurtechnik der Neuzeit. Geitel Max

Schöpfungen der Ingenieurtechnik der Neuzeit - Geitel Max


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      Schöpfungen der Ingenieurtechnik der Neuzeit

      Vorwort zur zweiten Auflage

      Die Leistungen der Technik der Neuzeit reden eine so machtvolle und überzeugende Sprache, daß – im Gegensatz zu früheren Zeiten – die Kenntnis der wesentlichsten Zweige der Technik zu dem Rüstzeug des Gebildeten gehört. Die Schöpfungen der Ingenieurtechnik nehmen insofern eine besondere und eigenartige Stellung ein, als sie sich der Allgemeinheit am unmittelbarsten vor Augen führen und durch den Segen, den sie bringen, am nachhaltigsten und verständlichsten den Ruhm der Technik von heute predigen.

      Überaus schwierig war es, die Auswahl aus der reichen Fülle des Stoffes zu treffen. Wie in der gesamten Technik, so überbietet die Schöpfung der Ingenieurtechnik von heute die von gestern. Was vor wenigen Monaten noch als die Höchstleistung galt, ist oft schon dann veraltet, wenn es aus dem Plan in die Wirklichkeit übertragen wurde. Was der Ingenieur zu Beginn seiner Laufbahn bewunderte, wird häufig von ihm heute belächelt. Der Weltkrieg, der zu einem erheblichen Teile mit technischen Mitteln geführt wurde, hat dies in besonderem Maße bestätigt und Leistungen gezeitigt, die bisher als unerfüllbar galten. Die Auswahl aus den Schöpfungen der Ingenieurtechnik ist, wie in der ersten Auflage, auf solche beschränkt, von denen nach menschlicher Voraussicht anzunehmen ist, daß sie auf längere Zeit hinaus als Meisterwerke gelten werden.

      Berlin-Wilmersdorf, im Dezember 1921.

      Max Geitel.

      Einleitung

      Eine jede Technik ist merkwürdig, wenn sie sich an vorzügliche Gegenstände, ja wohl gar an solche heranwagt, die über ihr Vermögen hinausreichen.

Goethe.

      Wenn wir in den nachstehenden Abhandlungen eine Anzahl von Schöpfungen der Ingenieurtechnik der Neuzeit in Wort und Bild vorführen, so fassen wir hierbei das Gebiet der Ingenieurtechnik im weitesten Sinne des Sprachgebrauches auf, nicht in dem engen Sinne der technischen Wissenschaft und Sprachweise. Abraham a S. Clara, das Vorbild des Schillerschen Wallenstein-Kapuziners, erteilt der Stadt Nürnberg folgendes wohlverdiente Lob: »Weit mehr Künstler seynd von dieser Stadt herkommen, als gewaffnete Soldaten gestiegen aus dem großen Trojanischen Pferd, daß man also schier solle diese Stadt nicht mehr Nürnberg, sondern Hirnberg nennen, zumahlen so viel vernünftige und zu allen Künsten capable Köpff anzutreffen«. Von jeher hat der Stand der Ingenieure solche »capable Köpff« unter seinen Gliedern gezählt. Ihnen verdankt die Menschheit von heute einen guten Teil ihres Hochstandes. Zu den verständnisvollsten Kennern und Bewunderern der Technik gehörte Goethe. Mit sicherem Blicke erkannte er dasjenige in der Tätigkeit des Technikers, das diesem die Bewunderung der Mit- und Nachwelt einträgt und das darin besteht, daß er sich an solche Gegenstände heranwagt, die über sein Vermögen hinausgehen oder doch hinauszugehen scheinen. Dieser Wagemut tritt uns in den nachstehend behandelten Beispielen der Ingenieurtechnik in besonders hellem Glanze entgegen. Hierbei werden wir uns, entsprechend der vorstehend gegebenen weiteren Ausdehnung des Begriffes des Ingenieurs, nicht nur mit den Leistungen des Bau- und des Maschinen-Ingenieurs befassen, sondern auch dem Schiffbautechniker und dem Bezwinger der Lüfte und des Raumes sowie dem Ingenieur-Chemiker und dem Kriegs-Ingenieur die verdiente Würdigung widerfahren lassen.

      Wir beginnen mit der Beschreibung einiger hervorragender Eisenbauten. Hier sind es die Brücken, die als Überwinder der trennenden Macht der Flüsse und Meeresarme schon seit den ältesten Zeiten bei der Allgemeinheit das Gefühl der Bewunderung und der Dankbarkeit gegen die Erbauer erweckten. Treffend bringt dies Schiller in dem Distichon »Die schöne Brücke« zum Ausdruck:

      Unter mir, über mir rennen die Wellen, die Wagen, und gütig

      Gönnte der Meister mir selbst, auch mit hinüber zu gehn. –

      Allerdings machen die neuzeitlichen Brückenbauten weniger Anspruch auf Schönheit als auf Sicherheit und Zweckmäßigkeit. Aber unter Würdigung ihrer hohen Bedeutung als Vermittler des Verkehrs, der Kultur, des Austausches körperlicher und geistiger Güter, gewinnen ihre den Gesetzen der zahlenmäßigen Berechnung unterworfenen Formen nicht minder die Weihe der Schönheit als die formvollendetsten zu Stein gewordenen Dichtungen der Architektur. Im Anschluß an die Brückenbauten führen wir die Riesenbauten der Wolkenkratzer vor und einige bemerkenswerte Anwendungen des neuesten Baustoffes, des Eisenbetons. Sodann wenden wir uns der Beschreibung der Durchbohrung eines der größten Bergriesen der Alpenwelt zu, um hierauf einige der hervorragendsten Beispiele aus dem Gebiete des Kanalbaues, auf dem schon unsere Vorfahren Großes leisteten, folgen zu lassen. Auch auf dem Gebiete der die Wasserkräfte der Flüsse und Bäche aufspeichernden Staudämme, denen wir uns alsdann widmen, haben unsre Väter bereits Hervorragendes geleistet. Um so neuzeitlicher sind diejenigen Ingenieurleistungen, denen wir uns in den folgenden Abschnitten widmen: die elektrische Kraftverteilung, die elektrischen Fernbahnen, die Hoch– und Untergrundbahnen unsrer Riesenstädte, die den Ozean durchquerenden Riesenpaläste, die den Traum des Dädalus erfüllenden Luftschiffe und Flugzeuge, der jüngste Triumph in der Meisterung der Naturkräfte: die drahtlose Telegraphie und die hervorragendsten durch den Weltkrieg gezeitigten Ingenieurleistungen.

      Mehrere der von uns zu behandelnden Schöpfungen der Ingenieurtechnik können füglich zu den sieben Weltwundern der Neuzeit gerechnet werden. Allerdings ist die Bemessung des Begriffes »Wunder« in hohem Maße von der Auffassung des einzelnen abhängig. Eine amerikanische technische Zeitschrift hat den Versuch gemacht, durch eine bei ihren Lesern gehaltene Umfrage festzustellen, welche sieben Weltwunder der Neuzeit an die Stelle der mit Ausnahme der Pyramiden vom Erdboden verschwundenen sieben Weltwunder des Altertums zu setzen seien. Die überwiegende Mehrzahl der abgegebenen Stimmen stellte die sieben Weltwunder der Neuzeit in der nachfolgend wiedergegebenen Reihenfolge hin: 1. die drahtlose Telegraphie, 2. das Telephon, 3. der Flugapparat, 4. das Radium, 5. die Antiseptika, 6. die Spektralanalyse, 7. die X-Strahlen. Eine große deutsche Tageszeitung erließ die gleiche Umfrage. Die hier abgegebenen Stimmen vereinigten sich in der nachstehenden Reihenfolge auf die drahtlose Telegraphie, den Panamakanal, das lenkbare Luftschiff, die Flugmaschine, die Radiumanwendung, den Kinematograph, den Riesendampfer »Imperator«.

      I. Eiserne Brücken- und Hochbauten

      Die gewaltige Entwicklung, die der Brückenbau in den letzten Jahrzehnten genommen hat, und die uns in der Überbrückung immer größerer Spannweiten entgegentritt, hat zweierlei Quellen, die beide aus der wissenschaftlichen Vertiefung entspringen, die die Technik im allgemeinen und die Ingenieurtechnik im besonderen genommen hat. Zunächst ist hier die Vervollkommnung der verschiedenen auf die Darstellung von Eisen und Stahl abzielenden Arbeitsverfahren zu nennen. Sodann war es die Ausgestaltung und Anwendung der Mathematik und Mechanik durch Ritter, Culmann, Schwedler, Müller-Breslau u. a. m., die in der sog. graphischen Statik dem Ingenieur das Mittel in die Hand gab, um die in den einzelnen Teilen der Bauwerke auftretende Inanspruchnahme nicht nur rechnerisch, sondern auch zeichnerisch festzulegen und die einzelnen Bauteile mit dem Aufwand geringsten Materials und doch vollkommen sicher auszuführen.

      Im Jahre 1778 wurde die erste noch heute in Benutzung befindliche eiserne Brücke bei Iron-Bridge in England erbaut. Sie hat eine Spannweite von 33 m. Im Laufe der Jahrzehnte erhöhten sich die Spannweiten allmählich mit der Vervollkommnung der Eisendarstellung und des wissenschaftlichen Rüstzeuges zu früher nicht geahnten Ausmaßen. Nachstehend bringen wir eine kleine Auslese aus den größten eisernen Brücken der Erde.

      Besonders große Spannweiten weisen die neuzeitlichen Hängebrücken auf. Wir nennen hier:

      Aus der Zahl der großen Brückenbauten eine geeignete Auswahl zu treffen, ist eine schwierige Aufgabe. Immerhin ist bezüglich der nachstehend beschriebenen fünf großen Brückenbauten festzustellen, daß jede derselben eine eigenartige Stellung einnimmt: die Forthbrücke fordert unsre Bewunderung durch ihre gewaltigen Abmessungen heraus; bei der Zambesibrücke waren erhebliche örtliche Schwierigkeiten zu überwinden; der Bau der Hohenzollernbrücke bei Köln mußte sich unter überaus schwierigen Verhältnissen


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