Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Rudolf Virchow

Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre - Rudolf Virchow


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erweitern oder verengern, höchstens dass ihre Elasticität eine Verengung möglich macht. Mit Ausnahme von Stricker hat niemand in neuerer Zeit an ihnen eigentliche Vorgänge der Contraction oder des Nachlasses derselben bemerkt. Die früheren Discussionen über die Contractilität der Capillaren sind wesentlich auf kleine Arterien und Venen zu beziehen, deren Lumen sich durch Contraction ihrer Muskelwand verengt oder sich bei Nachlass der Contraction unter dem Blutdrucke erweitert. Es war dies eine überaus wichtige Thatsache, welche sofort aus der genaueren histologischen Kenntniss der feineren und grösseren Gefässe hervorging; sie lehrte, dass man überhaupt nicht von allgemeinen Eigenschaften, am wenigsten von einer überall in gleicher Weise vorhandenen Thätigkeit der Gefässe sprechen kann, insofern der capillare Theil wesentlich anders gebaut ist, als die kleinen Arterien und Venen. Diese sind höchst zusammengesetzte Organe, während das Capillargefäss eine einfache Röhre von fest elementarem Bau darstellt.

      Drittes Capitel.

      Physiologische Eintheilung der Gewebe

      Ungenügende Ausbildung der anatomischen Kenntniss der Gewebe. Verschiedenartige Lebenserscheinungen an scheinbar gleichartigen Elementen. Praktisches Bedürfniss einer physiologischen Gruppirung:

      1) Nach der Function. Motorische Elemente: muskulöse, epitheliale (Flimmerzellen, Samenfäden), bindegewebige (Pigment). Schleimabsonderung: Schleimhäute, Schleimdrüsen, Schleimgewebe.

      2) Nach der Lebensdauer der Elemente. Dauer- und Zeitgewebe. Pathologische Aenderung der natürlichen Verhältnisse (Heterochronie). Lehre von der Allveränderlichkeit des Körpers durch Stoffwechsel (Mauserung). Unterscheidung von Dauer- und Verbrauchsstoffen in den Elementen. Wechselgewebe (Metaplasie). Abfällige Gewebe: Epidermis (Desquamation), Decidua uterina. Einfache Zeitgewebe. Oertliche Verschiedenheit der Lebensdauer desselben Gewebes. Nothwendigkeit einer Localgeschichte der Gewebe.

      3) Nach der Zeit der Entstehung und des Absterbens der Gewebe (genetische Eintheilung). Jugendliche und senescirende Gewebe. Allgemeine und locale Chronologie der Gewebe. Embryonale Gewebe; unfertige oder unreife: Matricular- und Uebergangsgewebe. Chorda dorsualis. Schleimgewebe. Bildungsgewebe und Vorgewebe (Anlagen, Keimgewebe). Bildungs- oder Primordialzellen. Allgemeine Gültigkeit der Entwickelungsgesetze.

      4) Nach der Verwandtschaft und Abstammung. Continuitäts-Gesetz. Heterologe Verbindungen von Gewebselementen. Die histologische Substitution und die histologischen Aequivalente. Abstammung der Elemente (Descendenz).

      Die anatomische Eintheilung der Gewebe ist eine wichtige und unerlässliche Vorbedingung für die physiologische Betrachtung derselben, und es ergeben sich, wie wir gesehen haben, aus der Kenntniss des Baus der Theile ohne Weiteres sehr wichtige Aufschlüsse über ihre Thätigkeit. Allein damit allein ist es nicht gethan. Vielmehr ist eine selbständige physiologische Untersuchung nothwendig, um die besondere Bedeutung der einzelnen Gewebe zu ermitteln und für jeden Ort im Körper festzustellen, welche Thätigkeiten von seinen Elementen ausgehen.

      Ganglienzellen finden sich an den verschiedensten Orten des Körpers. Niemand zweifelt daran, dass sie im Gehirn eine andere Bedeutung haben, als am Sympathicus, an der Hirnrinde eine andere als im Streifenhügel. Manche Verschiedenheiten der Grösse und Gestalt, der Verbindung und inneren Einrichtung derselben lassen sich an diesen verschiedenen Orten wahrnehmen. Nichtsdestoweniger genügen diese anatomischen Verschiedenheiten nicht, um die physiologisch so verschiedene Energie der einzelnen Gruppen zu erklären.

      Epitheliale Zellen kommen unter den mannichfaltigsten Verhältnissen vor. Höchst auffallende Verschiedenheiten ihres Baues finden sich an den einzelnen Orten. Wir begreifen, dass eine Flimmerzelle andere Wirkungen hervorbringt, als ein Epidermisplättchen. Aber wir sind nicht im Stande zu erkennen, warum die Epithelien der Milchdrüse so wesentlich andere Leistungen hervorbringen, als die Epithelien der Speicheldrüsen, oder warum die Flimmerzellen der Hirnventrikel nicht dieselbe physiologische Stellung einnehmen, wie die Flimmerzellen des Uterus.

      Wenn wir aus der physiologischen Forschung Verschiedenheiten scheinbar gleichartiger Elemente erkennen, so gelangen wir damit allerdings sofort zu neuen Fragestellungen und Vermuthungen in Beziehung auf die weitere anatomische Untersuchung, und es ist keineswegs unwahrscheinlich, dass man auf dem Wege einer derartigen Untersuchung allmählich zu einer ungleich grösseren Erkenntniss der localen Verschiedenheiten in dem Bau und der Einrichtung histologisch gleichwerthiger Elemente kommen wird, als wir sie gegenwärtig besitzen. Nur darf man bei einer solchen Hoffnung nicht übersehen, dass diese Histologie der Zukunft noch nicht existirt und dass man sich daher vorläufig mindestens noch damit begnügen muss, neben einer anatomischen Ordnung der Gewebe auch noch eine physiologische oder genauer gesagt, mehrere physiologische zuzulassen.

      In der That gibt es mehr als ein Principium dividendi für die physiologische Gruppirung der Gewebe. Je nach der Richtung, in welcher die Fragestellung geschieht, fällt auch die Antwort verschieden aus. Der specifische Physiolog wird zuerst immer nach der Function fragen. Welche Thätigkeit übt ein Gewebe aus? Diese Richtung der Untersuchung führt zu einer Eintheilung der Gewebe nach ihrer Function. Eine kurze Umschau ergibt sofort, dass Gewebe, welche ganz verschiedenen anatomischen Gruppen angehören, bei dieser Art der Betrachtung einander genähert werden. Frage ich nach den Geweben, deren Function Bewegung ist, so werde ich zunächst an die Muskeln gewiesen. Aber unzweifelhaft ist auch die Flimmerbewegung Bewegung, unzweifelhaft haben die Samenfäden Bewegung. Und doch knüpft sich hier die Bewegung an epitheliale Erzeugnisse, welche von den eigentlichen Muskeln anatomisch weit entfernt sind. Sollen wir desswegen die Samenfäden zu den muskulösen Elementen oder die letzteren zu den epithelialen rechnen? Gewiss liegt hier ebenso wenig ein Grund zu einer solchen Vereinigung vor, als wenn wir Schwärmsporen und Infusorien vereinigen wollten. Allerdings hat es eine Zeit gegeben, wo man sämmtliche Schwärmsporen zu den Infusorien rechnete, wo sogar die Mehrzahl der beweglichen Algen eben dahin gezählt wurde, aber mit Recht betrachtet man diesen Standpunkt als einen überwundenen.

      Die Bewegung „sitzt“ jedoch nicht bloss in muskulösen und epithelialen Elementen; sie findet sich auch an bindegewebigen. Nehmen wir ein zugleich pathologisch interessantes Beispiel. Axmann hatte bei Fröschen gesehen, dass nach Durchschneidung der gangliospinalen Nerven die in der Haut zahlreich verbreiteten Pigmentzellen ihre Strahlen verlieren. Er nannte dies eine Atrophie und schloss daraus auf einen nutritiven Einfluss der gangliospinalen Nerven. Die in Frage stehenden Pigmentzellen sind grosse, sternförmige Bindegewebskörperchen. Bei der Wichtigkeit dieser Angabe beschloss ich eine experimentelle Prüfung derselben und veranlasste Herrn Lothar Meyer zu einer solchen. Alsbald ergab sich, dass es sich um keine Atrophie, sondern um eine Contraction handelte11. Die Zellen ziehen ihre Fortsätze ein, ihr Körper vergrössert sich in demselben Maasse, und das früher über eine grössere Fläche vertheilte Pigment häuft sich an einzelnen Stellen an. Das grobe Ergebniss dieser unzweifelhaften Bewegung ist eine Farbenveränderung der Froschhaut.

      Wir finden also, dass in allen drei Gruppen der Gewebe motorische Thätigkeit nachweisbar ist, und jeder Denkende wird daher auch veranlasst werden, seine etwaigen Betrachtungen über motorische Elemente oder noch allgemeiner über motorische Gewebe auf alle drei Gruppen auszudehnen. Von diesem Gesichtspunkte aus ergibt sich eine Eintheilung aller Gewebe in zwei Abtheilungen: motorische und nicht motorische. Dagegen lässt sich nicht das Mindeste sagen. Aber man darf auch nicht übersehen, dass diese Eintheilung eine wesentlich praktische ist. Sie mag durchaus wissenschaftlich durchgeführt werden, aber sie greift eine einzige Seite der Betrachtung auf, sie wählt ein einziges Merkmal, eine einzige Eigenschaft aus der ganzen Summe der Merkmale und Eigenschaften dieser Gewebe oder Elemente. Sie kann daher keinesweges als eine eigentlich wissenschaftliche Eintheilung gelten, wenngleich sie für die wissenschaftliche Betrachtung und Untersuchung von dem grössten Nutzen ist.

      Unter den Absonderungen hat seit den ältesten Zeiten eine das Interesse der Aerzte ganz besonders auf sich gezogen, die des Schleims. Schon in der koischen Priesterschule wird das Phlegma als einer der vier Cardinalsäfte des Körpers aufgeführt, und noch heute hat sich eine freilich sehr verwischte Erinnerung daran in der Bezeichnung des phlegmatischen Temperamentes erhalten. In der That war die glasige, gallertartige, gequollene Beschaffenheit des Schleims wohl geeignet, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und die Häufigkeit seines Hervortretens unter krankhaften Verhältnissen,


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Mein Archiv 1854. Bd. VI. S. 266.