Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Rudolf Virchow
embryonale Gewebe erscheinen unter Verhältnissen, wo man versucht wird, sie entweder für Matriculargewebe oder wenigstens für Vorgewebe zu halten. Die Chorda dorsualis liegt inmitten der späteren Wirbelkörper und ihr knorpelartiger Charakter legte es nahe, in ihr die erste Anlage der späteren Wirbelkörper und zwar namentlich der knorpeligen Matrices derselben zu sehen. In der That hat man geglaubt, dass aus ihr oder doch aus ihrer Scheide die Vertebralknorpel hervorgingen. Erst die neuere Forschung hat gelehrt, dass dies ein Irrthum war, indem die Knorpel ausserhalb der Chorda und ihrer Scheide entstehen. Aehnlich war es mit dem sogenannten Meckel'schen Knorpel, dessen Lage in unmittelbarer Verbindung mit dem Unterkiefer es wahrscheinlich machte, dass er wirklich die Matrix des Unterkiefers sei. Aber auch hier erweist sich der Knochen als eine äussere Belagsmasse des Knorpels. Während der letztere daher sich hier als ein rein fötales Zeitgewebe darstellt, so gehen aus seinem hinteren Ende allerdings der Hammer und Ambos, namentlich in sehr deutlicher Weise der Hammerfortsatz hervor, und es erweist sich daher dasselbe Gebilde, welches an seinem vorderen Ende eine bloss temporäre Bedeutung hat, in seinem hintersten Abschnitte als ein wirkliches Vorgewebe.
Was die Uebergangsgewebe betrifft, so entstehen sie entweder aus den Vorgeweben oder aus Matriculargeweben. Die aus der Furchung der Eizelle entstehenden Ur- oder Bildungszellen (cellulae primordiales s. formativae) bieten ein schönes Beispiel dafür. Die farblosen Blutkörperchen stehen ihnen nahe. Manche Uebergangselemente zeichnen sich durch ganz besondere, sonst fast gar nicht normal vorkommende Formen aus. Ich erinnere in dieser Beziehung an die vielkernigen Riesenzellen des Knochenmarks. Andere Uebergangselemente wiederum haben so indifferente und gleichmässige Formen, sie stellen so sehr die einfachste Erscheinung nicht differenzirter Zellen dar, dass man gerade deshalb vielfach geneigt ist, sie sämmtlich zu identificiren, und, wie früher unter dem Namen von Primordial- oder Exsudatzellen, so jetzt unter dem der farblosen Blutkörperchen zusammenzufassen. Gerade im Knochenmark, wie in der Milz, kommen neben grossen und vielkernigen Elementen solche kleine, runde, einfache Zellen sehr häufig vor.
Der entwickelte Organismus zeigt in allen diesen Beziehungen keine durchgreifenden Verschiedenheiten von dem fötalen. Die blosse Form der Elemente oder Gewebe genügt daher keineswegs, dieselben für fötal oder embryonal auszugeben. Die Gesetze der Entwickelung gelten für alle Zeiten des Lebens, und wenn dieselben nicht zu allen Zeiten in gleicher Ausdehnung und Häufigkeit zur Geltung kommen, so darf man darüber nicht vergessen, dass die Bedingungen nicht zu allen Zeiten gleiche sind. Eine correcte Terminologie ist aber nur zu gewinnen, wenn wir jedem Lebensalter seine besondere Beziehung lassen. Gerade die Pathologie muss in dieser Beziehung besonders streng sein, da ihr Erfahrungsgebiet eine grosse Reihe von Erscheinungen umfasst, welche im gewöhnlichen Leben auf gewisse Zeiten der Entwickelung, z. B. auf das embryonale Leben beschränkt sind, welche aber unter krankhaften Verhältnissen zu ganz ungehörigen Zeiten auftreten. Muskel- und Nervenfasern von ganz embryonalem Charakter können im Zeitalter der Pubertät oder noch später entstehen, aber wenn man sie ihres Charakters wegen embryonal nennen wollte, so würde man Gefahr laufen, die grösste Verwirrung hervorzurufen.
Es erhellt aus diesen Erörterungen, dass wir trotz der Wichtigkeit der physiologischen Gesichtspunkte doch einer rein anatomischen Classification der Gewebe nicht entbehren können. Sie bildet für die Physiologie und Pathologie eine ebenso nothwendige Grundlage, wie die anatomische Classifikation der Pflanzen und Thiere für die Botanik und die Zoologie. Gleichwie jedoch der Botaniker und der Zoolog jede einzelne Species und Varietät, ja wie der Gärtner und der Viehzüchter jedes Individuum von Baum und Thier besonders in seinen Eigenschaften und Eigenthümlichkeiten studiren muss, so wird auch der Physiolog und noch mehr der Patholog auf eine gleiche Individualisirung und Localisirung seiner Forschungen hingewiesen.
Bevor ich jedoch diese Betrachtungen schliesse, muss ich noch ein Paar Augenblicke bei der Erörterung einiger wichtiger principieller Punkte verweilen, welche die thierischen Gewebe in ihrer Verwandtschaft unter einander und Abstammung von einander betreffen, und welche wiederholt zu allgemeinen, mehr physiologischen Formulirungen Veranlassung gegeben haben.
Als Reichert es unternahm, die Gewebe der Bindesubstanz zu einer grösseren Gruppe zusammenzufassen, ging er hauptsächlich von dem philosophischen Satze aus, dass der Nachweis der Continuität der Gewebe über ihre innere Verwandtschaft entscheiden müsse. Sobald man erkennen könne, dass irgend ein Theil mit einem andern continuirlich (durch inneren Zusammenhang, nicht durch blosses Zusammenstossen) verbunden sei, so müsse man auch beide als Theile eines gemeinschaftlichen Ganzen betrachten. Auf diese Weise suchte er zu beweisen, dass Knorpel, Beinhaut, Knochen, Sehnen u. s. f. wirklich ein Continuum, eine Art von Grundgewebe des Körpers bildeten, die Bindesubstanz, welche an den verschiedenen Orten gewisse Differenzirungen erfahre, ohne dass jedoch der Charakter des Gewebes als solchen dadurch aufgehoben würde. Dieses sogenannte Continuitäts-Gesetz hat bald die grössten Erschütterungen erfahren, und gerade in der jüngsten Zeit sind so gefährliche Einbrüche in dasselbe geschehen, dass es kaum noch möglich sein dürfte, daraus ein allgemeines Kriterium für die Bestimmung der Art eines Gewebes herzunehmen. Man hat immer neue Thatsachen für die Continuität solcher Gewebs-Elemente beigebracht, welche nach Reichert toto coelo auseinander gehalten werden müssten, z. B. von Epithelial- und Bindegewebe; insbesondere haben sich die Angaben gehäuft, dass cylindrische Epithelzellen in fadenförmige Fasern auslaufen, welche direct in Zusammenhang treten mit Bindegewebs-Elementen, z. B. am Darm. Ja, man hat sogar in der neuesten Zeit eine Reihe von Angaben gemacht, nach denen solche Zellen der Oberfläche nach Innen fortgehen und dort mit Nervenfasern in unmittelbarem Zusammenhang stehen sollten, z. B. am Gehirn. Was das letztere betrifft, so muss ich bekennen, dass ich noch nicht von der Richtigkeit der Darstellung überzeugt bin, allein was den ersteren Fall anbelangt, so besteht ein wirkliches Continuitäts-Verhältniss der Elemente. Man ist also nicht mehr im Stande, scharfe Grenzen zwischen jeder Art von Epithel und jeder Art von Bindegewebe zu ziehen; es ist dies nur da möglich, wo Plattenepithel sich findet, und auch hier nicht überall, während die Grenzen zweifelhaft sind überall, wo Cylinder-Epithel existirt.
Ebenso verwischen sich die Grenzen auch anderswo. Während man früher zwischen Muskel- und Sehnen-Elementen eine scharfe Grenze annahm, so hat sich auch hier, zuerst durch Hyde Salter und Huxley, ergeben, dass an die Elemente des Bindegewebes direct Faserzellen sich anschliessen, welche nach und nach den Charakter quergestreifter Muskeln annehmen. Auf diese Art ergeben sich in dem Bindegewebe sowohl mit den Elementen der Oberfläche, als mit den edleren Elementen der Tiefe continuirliche Verbindungen. Erwägt man nun andererseits, dass die Elemente des Bindegewebes aller Wahrscheinlichkeit nach bestimmte Beziehungen zu dem Gefässapparat, insbesondere zu den Lymphgefässen haben, so liegt es sehr nahe, in dem Bindegewebe eine Art von indifferentem Sammelpunkt, eine eigenthümliche Einrichtung für die innere Verbindung der Theile zu sehen, eine Einrichtung, die allerdings nicht für die höheren Funktionen des Thieres, aber wohl für die Ernährung und Entwickelung von der allergrössten Bedeutung ist.
Noch viel auffälliger sind die Beziehungen zwischen den letzten Verzweigungen der peripherischen Nerven und den Elementen anderer Gewebe. Seit Doyère hat sich die Aufmerksamkeit hauptsächlich der Verbindung zwischen den letzten Ausläufern der motorischen Nerven und den Muskelprimitivbündeln zugewendet, und es ist nicht mehr zweifelhaft, dass die ersteren das Sarkolemm durchbohren und in direkten Contakt mit der Fleischsubstanz treten. Noch weiter gehen die Verbindungen zwischen den terminalen Nerven und den Epithelien. Hensen hat in Froschlarven die Nervenfädchen bis zu den Kernkörperchen der Hautepithelien verfolgt; Lipmann hat Aehnliches an dem hinteren Epithel der Hornhaut und selbst an den Körperchen der Hornhaut wahrgenommen. Pflüger sah die letzten Nervenausläufer an die Zellen der Speicheldrüsen treten.
An die Stelle des Continuitätsgesetzes muss man daher nothwendig etwas Anderes setzen. Nicht der Zusammenhang zwischen den Theilen, welcher möglicherweise erst einer späteren Entwickelungszeit angehört, und welcher Verbindungen zwischen Theilen sehr verschiedener Natur herbeiführen kann, sondern die Entstehung ist entscheidend. Die Verwandtschaft der Gewebe führt zurück auf eine gemeinsame Abstammung (Descendenz). Allerdings lehrt die Geschichte des befruchteten Ei's, dass in letzter Abstammung die verschiedenartigsten Gewebe von einem gemeinschaftlichen Anfange ausgehen, aber in dem Fortgange der Proliferation kommen wir an gewisse Stadien, wo die einzelnen Zellen oder Zellengruppen ihre Differenzirung beginnen, und von hier aus kehrt jede Zelle oder