Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Rudolf Virchow
allen anhaften; nichtsdestoweniger geht eine jede Gruppe ihren eigenen Weg, der von dem der anderen verschieden ist. Bei Menschen einer bestimmten Race finden sich gewisse Eigenschaften der Haare und der Haut, des Schädel- und Zahnbaus, der Grösse und des Umfanges der verschiedensten Skelettheile mit so grosser Beständigkeit wieder, dass wir aus einzelnen Merkmalen auf die Anwesenheit der anderen schliessen können. Der gemeinsame Ursprung aller Gewebe von dem einen befruchteten Ei gibt die allerdings nur grobe Erklärung dieser Erfahrung. Von Zelle zu Zelle pflanzt sich wenigstens etwas aus dem ursprünglichen Vorgewebe fort. Je mehr sich die Matriculargewebe ausbilden, um so sichtbarer wird die Verwandtschaft ihrer Derivate unter einander. Wenn aus dem Rete Malpighii des Embryo einerseits Haarzwiebeln, andererseits Schweiss- und Talgdrüsen entstehen, so lässt sich vermuthen, dass eine gewisse Beziehung zwischen Haarbildung und Absonderung von Schweiss und Talg bestehen muss, und es begreift sich, dass Beides bei einem Neger anders ist, als bei einem Weissen.
Eine genauere Kenntniss der Stammbäume der Gewebe wird manches noch jetzt bestehende Räthsel lösen. Leider sind die embryologischen Erfahrungen noch keineswegs sicher genug, um auch nur eine Uebersicht zu geben. Hat doch erst in neuerer Zeit His alle früheren Vorstellungen angegriffen, indem er das embryonale Bindegewebe gar nicht von der Eizelle, sondern von dem Dotter ausgehen lässt, der sich ausserhalb derselben befindet. Schon die früheren Embryologen waren darin einig, dass eine andere Quelle für das Bindegewebe, als für die Epithelialformation besteht, dass besondere Heerde für Muskel- und Nervenbildung existiren. Je weiter die Forschung schreitet, um so sicherer wird sich von diesem Felde aus die genetische Topographie des Körpers gestalten lassen.
Für den erwachsenen Körper, ja schon für die späteren Zeiten der fötalen Entwickelung ist von entscheidender Wichtigkeit das Gesetz der histologischen Substitution. Bei allen Geweben derselben Gruppe besteht die Möglichkeit, dass sie gegenseitig für einander eintreten. Zu verschiedenen Zeiten des Lebens finden sich an derselben Stelle verschiedene Glieder einer Gewebsgruppe. Bei verschiedenen Thierklassen wird an einem bestimmten Orte des Körpers das eine Gewebe ersetzt durch ein analoges Gewebe derselben Gruppe, mit anderen Worten, durch ein histologisches Aequivalent.
Eine Stelle, welche Cylinderepithel trägt, kann Plattenepithel bekommen; eine Fläche, die anfänglich flimmerte, kann später gewöhnliches Epithel haben. So treffen wir an der Oberfläche der Hirnventrikel zuerst Flimmer-, späterhin einfaches Plattenepithel. Die Schleimhaut des Uterus flimmert für gewöhnlich, aber in der Gravidität wird die Schicht der Flimmercylinder an der Decidua ersetzt durch eine Lage von Plattenepithel. An Stellen, wo weiches Epithel vorkommt, entsteht unter Umständen Epidermis, z. B. an der vorgefallenen Scheide, an den Stimmbändern. In der Sclerotica der Fische findet sich Knorpel, während sie beim Menschen aus dichtem Bindegewebe besteht; bei manchen Thieren kommen an Stellen der Haut Knochen vor, wo beim Menschen nur Bindegewebe liegt, aber auch beim Menschen wird an vielen Stellen, wo gewöhnlich Knorpel liegt, zuweilen Knochengewebe gefunden, z. B. an den Rippenknorpeln. Knorpel kann sich in Schleimgewebe, dieses in Fettgewebe oder in Knochengewebe umwandeln, wie es bei der gewöhnlichen Knochen-Entwickelung der Fall ist. Am auffälligsten sind diese Substitutionen im Gebiete der Muskeln. Der Oesophagus besitzt in seinem oberen Abschnitte quergestreifte, im unteren glatte Muskelfasern. Bei einigen Fischen findet sich quergestreifte Muskulatur an Theilen des Nahrungskanals, wo die anderen glatte haben, z. B. am Magen des Schlammpeitzgers (Cobitis) und am Darm der Schleie (Tinca).
Nicht alle diese Substitutionen sind gleichwerthig. Ein Theil derselben führt direkt auf Metaplasie (S. 70) zurück, indem die Elemente persistiren und entweder ihren Charakter ändern, oder eine andere Art von Intercellularsubstanz abscheiden. Wenn Knorpel in Schleimgewebe übergeht, so bleiben seine Zellen bestehen und die Intercellularsubstanz wird weich. Ein anderer Theil der Substitutionen, nehmlich alle diejenigen, bei welchen es sich um verschiedene Arten von Thieren handelt, also alle diejenigen, welche der vergleichenden Anatomie angehören, zeigt uns parallele, aber nicht continuirliche Reihen. Haare und Federn sind parallele, Knorpel und Knochen continuirliche Aequivalente.
Viertes Capitel.
Die pathologischen Gewebe
Die pathologischen Gewebe (Neoplasmen) und ihre Classification. Bedeutung der Vascularisation. Die Doctrin von den specifischen Elementen: Krebs, Tuberkel. Die physiologischen Vorbilder (Reproduction). Einfache (histioide) und zusammengesetzte (organoide und teratoide) Neubildungen. Homologie und Heterologie (Heterotopie, Heterochronie, Heterometrie). Malignität. Hypertrophie und Hyperplasie. Kriterien der Homologie. Degeneration. Prognostische Gesichtspunkte.
Ungewöhnliche Analogien der pathologischen Gewebe: Krebs, Sarkom (Spindelzellen, Riesenzellen). Abstammung der pathologischen Gewebe: Continuität der Entwickelung, Discontinuität des Typus. Pathologische Substitutionen und Aequivalente. Homologe und heterologe Substitution. Bildung per primam aut secundam intentionem. Verschiedenartige Entstehung derselben Gewebe unter verschiedenen Bedingungen: Knochen, Bindegewebe. Organisation fibrinöser Blasteme. Metaplasie. Verschiedenartige Abstammung derselben Gewebsart.
Wenn man von pathologischen Geweben spricht, so kann man natürlich damit nur die pathologisch neu entstandenen meinen, und nicht etwa die durch irgend eine pathologische Störung veränderten physiologischen Theile. Es handelt sich also hier um eigentliche Neubildungen, Neoplasmen, um das, was im Laufe pathologischer Processe an neuen Geweben zuwächst, und es fragt sich: lässt sich das, was wir physiologisch als allgemeine Typen der Gewebe hingestellt haben, auch pathologisch festhalten? Darauf antworte ich ohne Rückhalt: ja, und so sehr ich auch darin abweiche von vielen der lebenden Zeitgenossen, so bestimmt man auch noch in den letzten Jahren die ganz besondere (specifische) Natur der Elemente vieler pathologischen Gewebe hervorgehoben hat, so bin ich doch überzeugt, dass jedes pathologische Gebilde ein physiologisches Vorbild hat, und dass keine pathologische Form entsteht, deren Elemente nicht zurückgeführt werden könnten auf ein in der thierischen Oekonomie gegebenes Vorbild.
Die Classification der pathologischen Neubildungen ist früherhin meistentheils versucht worden vom Standpunkte der Vascularisation aus. Bis zur Zeit der Zellentheorie hat man die Frage von der Organisation bestimmter Theile entschieden durch den Nachweis ihrer Vascularisation oder Nicht-Vascularisation. Man nahm jeden Theil als organisirt, der Gefässe enthielt, jeden als nicht organisirt, der keine Gefässe führte. Dies ist für den heutigen Standpunkt an sich schon eine Unrichtigkeit, insofern wir auch physiologische Gewebe ohne Gefässe, wie die Knorpel, das Epithel haben.
So lange als man, entsprechend dem niedrigen Stande der mikroskopischen Technik, die zelligen Elemente höchstens als Kügelchen kannte und diesen Kügelchen sehr verschiedene Bedeutung beilegte, war es zu verzeihen, dass man sich an die Gefässe hielt, insbesondere seit John Hunter die Vergleichung der pathologischen Neubildung mit der Entwickelung des Hühnchens im Ei in die allgemeine Vorstellung eingeführt und zu zeigen versucht hatte, dass ähnlich, wie das Punctum saliens im Hühnerei die erste Lebenserscheinung darstelle, so auch in pathologischen Bildungen Blut und Gefäss das Erste sei. Nach diesem Vorbilde beschrieben noch Rust und Kluge manche „parasitischen“ Neubildungen als versehen mit einem unabhängigen Gefässsystem, welches, ohne Wurzel in den alten Gefässen, sich, wie im Hühnchen, ganz selbständig bilden sollte. Freilich hatte man schon vor dieser Zeit vielfach versucht, die scheinbar so abweichenden Formen der Neubildungen auf physiologische Paradigmen zurückzuführen; namentlich ist dies ein wesentliches Verdienst der Naturphilosophen gewesen. In jener Zeit, wo die Theromorphie eine grosse Rolle spielte und man in den pathologischen Dingen vielfache Analogien mit den Zuständen niederer Thiere fand, hat man auch angefangen, Vergleichungen zwischen den krankhaften Neubildungen und bekannten Theilen des gesunden Körpers zu machen. So sprach der alte J. F. Meckel von dem brustdrüsenartigen, dem pancreasartigen Sarkom. Die Heteradenie, die heterologe Bildung von Drüsensubstanz, welche in der neuesten Zeit von Paris aus als eine Neuigkeit beschrieben worden ist, war in der deutschen naturphilosophischen Schule vor einem halben Jahrhundert eine ziemlich allgemein angenommene Thatsache.
Erst seitdem man die histologische Seite der Entwickelungsgeschichte zu bebauen begonnen hat, hat man sich mehr und mehr davon überzeugt, dass die meisten Neubildungen Theile enthalten, welche irgend einem physiologischen Gewebe entsprechen. Selbst in den mikrographischen Schulen des Westens hat man sich theilweise begnügt anzunehmen, dass