Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis. Max Bernhard Weinstein
Welt- und Lebenanschauungen
ERSTES KAPITEL.
Anschauungen der Naturvölker
6. Irdisch-menschliche Anschauungen
Diese sind bald erledigt. Für sie ist alles, wie es sich den Sinnen darstellt. Weder über das Wesen noch über die Ursache des Vorhandenen wird nachgedacht. Es wird alles so genommen wie es geboten ist, und Kenntnisse und Gesichtsweite richten sich nach dem Wahrgenommenen. Damit verbunden ist die Beziehung jeglichen Gegenstandes und Vorganges auf die eigene Person. Es ist ein rein anthropozentrischer Standpunkt, indem das Ich der entscheidende Inhalt der Welt ist, und Gut und Böse sind, was dem Ich dient oder dem Ich schadet. Von vornherein werden die Himmelskörper als Gegenstände gleich denen der Erde oder gar der nächsten Umgebung angesehen, so als gewöhnliche Körper, Menschen oder Tiere oder Früchte. Der Kulturmensch, der die Gelehrten sich den Kopf über die Welt zerbrechen läßt, wird die Himmelskörper schon als das betrachten, was aus der Wissenschaft auch gegen seine Absicht ihm zur Kenntnis gelangt ist. Aber bei Naturvölkern ist es eine Selbstverständlichkeit, daß die Welt einheitlich der irdischen gleicht. Naiv wird angenommen, was die Forschung mit vieler Mühe, wenn auch in ganz anderem Sinne, zum Teil erst erweist. Nichts ist charakteristischer als die Anschauung vom Himmel und von dem darüber Befindlichen, die wir bei so vielen Naturvölkern vorfinden. Der Himmel ist ein Zeltdach, am Horizont an die Erde durch Stricke, Ranken und ähnliches befestigt, oder von Bergen, Felsen, Bäumen, Menschen, Tieren getragen. So kann ein Mensch auch einfach in den Himmel gelangen. Tawhaki, ein neuseeländischer Heros und später Halbgott, hat ein dem Himmel entstiegenes Weib Tanga-Tanga oder Hapai und von ihr ein Töchterlein. Wie in unseren Märchen verschwindet das Weib jeden Tag mit Morgengrauen, bis sie aus Liebe gänzlich bei ihm bleibt. Eines Tages aber beleidigt er sie in dem Kind, das er als übelriechend bezeichnet, und sie entflieht mit dem Kind in ihre himmlische Heimat. Nun sucht er einen Weg, in den Himmel zu gelangen, um sie zurückzuholen. Nach einigen Abenteuern gelangt er dahin, wo die Befestigungsseile des Himmels die Erde treffen. Dort findet er eine alte Tante von ihm, und die gibt ihm den Rat, an dem festgemachten Seil emporzuklettern. Sein Bruder Karibi, der ihn begleitet hatte, nimmt ein zu loses Seil und wird nun von den Winden Ost und West hin und her geschleudert. Tawhaki selbst aber ist vorsichtig, klettert sicher und kommt so in den Himmel. Menschen, die auf irgendeine Weise in den Himmel gelangt sind und zur Erde zurückwollen, machen ein Loch, binden ein Tau an und lassen sich an dem Tau herab. Oder es schießt jemand einen Pfeil in die Höhe, der im Himmel stecken bleibt, dann schickt er einen zweiten in den ersten, einen dritten in den zweiten usf. So gewannen die Söhne Ajelens in Nordamerika eine Pfeilleiter, in den Himmel zu klettern, und einer so entstandenen Pfeilleiter bediente sich der polynesische Heros Quat. In Australien wirft ein Mann seine Lanze, an die ein Seil gebunden ist, gegen den Himmel, die Lanze bleibt dort stecken und er hat so einen Weg. Noch einfacher macht es Kasimbaha in Celebes, er benutzt die Rottangranke, nachdem die Feldratte ihre Dornen abgenagt hat, um in den Himmel zu gelangen. Wenn die Höhe eines Baumes nicht reicht, wird ein Zauber angewendet, ihn rasch wachsen zu lassen. Ein Kannibale, Quasawara, stellte dem vorhin erwähnten Quat (Banks-Inseln) und seinen Brüdern nach. Alle flohen auf die Spitze eines Kasuarinenbaumes. Der Verfolger kletterte hinter ihnen her, aber Quat machte den Baum immer höher wachsen. Zuletzt reichte dieser bis zum Himmel. Da bog Quat den Baum zur Erde, stieg rasch mit seinen Brüdern herab, indem er die Spitze festhielt, und als sie alle unten waren, ließ er die Spitze los, der Baum schnellte auf und der zurückgebliebene Quasawara zerschlug den Kopf an dem Himmel. Wer sich über so kindliche, fast kindische Anschauungen verwundern sollte, der denke, daß ja für den Augenschein der Himmel in der Tat nicht sehr fern ist, je nach Beschaffenheit der Luft und der Vergleichsgegenstände vielleicht 20 bis 80 Meter. Der Naturmensch folgt diesem Augenschein und läßt den Himmel über Bergen sich entsprechend wölben, mitunter auch die Berge in den Himmel ragen. Unwillkürlich denkt man an Astolfs Fahrt mit dem Apostel Johannes zum Monde, um Rolands Verstand, der dort in einer Flasche aufbewahrt wird, herabzuholen, nach Ariostos Dichterphantasie. Auf dem Monde
Da gibt es andre Flüsse, andre Seen,
Als sie in unsrer Welt, und andre Auen;
Da kann er andre Täler, andre Höhen
Mit ihren Städten, ihren Schlössern schauen,
Und Häuser, groß, wie er sie nie gesehen,
Zuvor noch, noch hernach auf Erden bauen;
Auch weite gibt’s, einsame Waldreviere,
Allwo die Nymphen jagen ihre Tiere.
Diese Verse führe ich des Folgenden wegen an. Der Naturmensch nimmt das gleiche an. Im Himmel ist nämlich für ihn alles wie auf der Erde: Wälder, Seen, Berge, selbst Menschen und Häuser. Und die Menschen unterscheiden sich an sich in nichts von den Erdenmenschen, nur daß man sie, da sie den Himmel bewohnen, etwas höher einschätzt. Tawhaki findet zuletzt sein Weib und sein Kind und bleibt bei ihnen, er spielt die Rolle eines Gewittergottes, indem es von seinen Fußtritten donnert und blitzt. Noch naiver ist die Erzählung von Rupes Himmelaufstieg. Er sucht seine Schwester und will darüber seinen Ahnen Rehua befragen. Der aber wohnt im zehnten Himmel – es wird also eine Vielzahl von Himmeln angenommen, wie auch anderweitig. – Rupe durchklettert alle Himmel, wie, wird einfach nicht gesagt. In allen ist es wieder genau wie auf der Erde. Endlich gelangt er in den zehnten Himmel und findet dort auch den gesuchten Rehua. Und wie gemein irdisch es da zugeht, wird fast mit Humor geschildert. Rupe verlangt zu essen. Da schüttelt der uralte Rehua die Locken, und es fallen eine Menge Vögel heraus, die gebraten werden. Auf Rupes verwunderte Frage, warum die Vögel in seinem Haar nisten, sagt Rehua, er hätte dort eine so große Menge von – Insekten, daß alle Vögel auf seinem Haupte ihre Nahrung suchen. Ja, Rupe findet, daß Rehuas Sklaven diesen schändlich behandelt haben, und muß seine Wohnung vom gräßlichsten Schmutz säubern. Und das im zehnten Himmel! zu dem der Hochgott der Ozeanier, Tane, die Wege besonders versperrt haben soll. In Borneo steigt ein Mann auf die Plejaden und bekommt dort Reis vorgesetzt, den er so kennen lernt. Fast gleiche Auffassungen finden wir in Australien und in Afrika, bei den Eskimo und bei anderen Völkern. Daß die Indianer Jagdgründe im Himmel erwarten, wissen wir ja schon aus Coopers Romanen. Aber folgende indianische Sage ist noch deutlicher, die ich nach Frobenius, gekürzt, gebe. Der Coyote hatte einen Sohn und dieser besaß zwei Frauen, von denen der Coyote eine für sich wünschte. Er wollte ihn töten und veranlaßte ihn, um einen Vogel zu fangen, auf einen Baum zu klettern. Nun ließ er den Baum höher und höher wachsen, bis dieser den Himmel berührte, daß sein Sohn sich an der Feste den Kopf einschlage. – Man vergleiche dazu die vorhin mitgeteilte Erzählung von Quat und Quasawara auf den Banks-Inseln. Aber der Sohn sprang vom Baum in den Himmel hinein. Was er da findet entspricht genau der ozeanischen Auffassung, Männer und Frauen, die Holz fällen. Von einem Mann und einer Frau wird er aufgenommen. Wie er Sehnsucht nach der Erde bekommt, spinnt ihm die Frau ein Seil und läßt ihn in einem Korb zur Erde nieder. Es will schon viel sagen, wenn einmal ein Held sich in den Balg eines Vogels tut und in den Himmel fliegt. Meist ist der Himmel so nahe und so irdisch, daß sogar Menschen ihn zurückschieben, wie in Ozeanien und Australien an vielen Orten erzählt wird. Zugleich ist er so derb solide, daß, wenn er herabstürzt, er alles zerschlägt und die Menschen tötet. Von einem Herabstürzen des Himmels wissen aber afrikanische, ozeanische und australische Stämme manches zu erzählen.
Der Himmel wird entweder oben gehalten oder, wie schon mitgeteilt ist, als Zelt an die Erde mit Stricken, Ranken befestigt. Bei den Wanyamwesi soll, nach Stuhlmann, eine Riesin, Fumyahólo, den Himmel gleich Atlas stützen. Ihr Gatte, Niamtitinwa, gleichfalls ein Riese, hält die Erde auf einer Seite, die andere Seite der Erde ruht auf einem Berg Lugula oder Lugiya. Wenn dieser Riese zu seiner Frau geht, bebt die Erde. Andere Afrikaner lassen die Erde auf einem Horn einer Kuh ruhen. Beben entsteht, wenn die Kuh die Erde auf das andere Horn umlegt. Ozeanier stellen sich die Erde vor als auf ein Netz aufgeschüttet, das im Meere schwimmt, oder als Klumpen, den der Held Maui mit einem Netz aus dem Meere emporgezogen hat. Weit verbreitet ist die Annahme, daß Erde und Himmel von Säulen gestützt werden. Im übrigen wird nicht viel nachgedacht, wir wissen ja auch, wieviel Kopfzerbrechen es den klügsten Menschen im Altertum gekostet hat, eine Stütze für die Erde zu finden, und welch ungetümliche Zurüstungen die geistig so hochstehenden Indier getroffen