Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis. Max Bernhard Weinstein

Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis - Max Bernhard Weinstein


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Sanskrit der Agni gewonnen, der „Beweger“. Im Laufe der Jahrhunderte trat dann eine immer weitergehende Vergeistigung ein, erst ein beseelter Beweger, wie ein Mensch, dann ein göttlicher Beweger usf., bis zuletzt bei einigen Sekten Agni zum höchsten Gott und Schöpfer hinaufidealisiert ward. Diese Theorie des großen Sprach- und Religionsforschers hat zweifellos etwas sehr Bestechendes. Man bedarf nicht einmal der wirklichen Sprache; es genügt ja völlig, wenn der Mensch in sich selbst die Handlungen auffaßt, wenn er es auch nach außen nicht zum Ausdruck bringt. Er wird dann innerlich das Feuer so betrachten, wie er es mittelst der Sprachwurzeln nach außen kundgibt. Aber bedeuten auch die ersten Sprachwurzeln nur Handlungen des Menschen, ist das auch der Fall mit den ersten bestimmten inneren Denkregungen? Werden auch diese sich nur auf Handlungen beziehen? Fast möchte man es glauben, da das Leben des Menschen in Handlung aufgeht und die Natur ja auch in stetem Geschehen sich befindet. Dinge also, die ruhen, würden keinen Anlaß zur Entstehung religiöser Begriffe geben. Diesen Schluß zieht auch Max Müller, da er von dem bekannten Fetischismus, Animismus und der Personifikation als Grundelemente der Religion nichts wissen will. Es ist schwer auf einem Gebiete wie dieses, wo jede Tradition und jede Erfahrung mangelt, etwas Bestimmtes zu sagen; unter den Völkern, die wir kennen, befindet sich und befand sich keines mehr im Ursprung der Religionsbildung, alle hatten und haben ein schon ziemlich kompliziertes System religiöser Ansichten. Am Kinde aber zu beobachten, wie bei ihm religiöse Anschauung entsteht und wächst, würde nur ersprießlich sein können, wenn man es als Wilden, gesondert von allem kulturmenschlichen Verkehr, aufwachsen ließe. Elterliche Brutalität bringt es manchmal zuwege, daß ein Kind in dieser Weise aufwachsen könnte, wenn die Kultur es nicht an sich von allen Seiten umgäbe. Und seit dem alten Ägypterkönig, von dem Herodot erzählt, daß er, um zu erfahren, welches die eigentlich menschliche Sprache sei, ein Kind vom ersten Tage gegen jeden menschlichen Verkehr abgeschlossen habe, ist das Experiment nicht wieder gemacht worden. Also, es fehlt an Mitteln zur Entscheidung. Nur das, glaube ich, muß man sagen, daß es nicht die äußere Sprache war, die die Religionen schuf, sondern die innere, und diese wird der äußeren weit vorausgegangen sein. Wenn Max Müller nur die äußere Sprache versteht, dann ist meines Erachtens seine Theorie nicht haltbar. Begehren und Furcht, ich wiederhole es, sind die Grundpfeiler für religiöse Anschauungen. Und wahrscheinlich Furcht zuerst, dem Begehren sich später erst anschließt. Die meisten Forscher greifen, wenn es sich um religiöse Regungen oder gar Anschauungen handelt, viel zu hoch. Man muß, wenigstens wenn man Religion in so weitem Sinne faßt, wie es der Anthropolog zu tun gezwungen ist, unter Abstraktion von aller ursprünglichen Offenbarung, tief herabsteigen. Sind die Menschen aus der Reihe der Lebewesen durch fortschreitende Entwicklung hervorgegangen und haben sie ihre seelischen Fähigkeiten allmählich erreicht, so wird man in dem Auftreten religiöser Regungen gar nicht weit genug zurückgehen können. Und bekanntlich behaupten manche Naturforscher, daß Tiere wohl auch etwas haben möchten, was einer Religionsanschauung – im weitesten Sinne des Wortes – entspricht. Sicher ist ja, daß manche Tiere sich vor ungewohnten Dingen und Bewegungen fürchten, daß sie unter Umständen Gespenster sehen usf. Haben doch sogar manche gemeint, daß der Hund im Menschen eine Art göttliches Wesen (göttlich vom Standpunkte des allertiefststehenden Wilden) sehe, was freilich mit der Tatsache, daß der Hund jeden anderen als seinen Herrn auch ohne Grund anbellt und anfällt, nicht recht harmonieren will.

      Nun unterscheidet Max Müller allerdings drei Stufen der Religionsanschauung: physische, anthropische (Max Müller scheut sich vor dieser Wortbildung und sagt anthropologische, ich sehe aber nicht ein, warum, um einer ungewohnten und freilich auch anfechtbaren Wortbildung zu entgehen, man zu einer anderen, bereits in anderem Sinne vergebenen greifen soll) und psychologische. Diese Stufen sind sicher für die allgemeine Entwicklung treffend gewählt, sie umfassen aber nicht alles. Man darf ferner Lippert in seinem Hauptsatze im allgemeinen beistimmen, daß Religion ohne einen gewissen, wenn auch noch so niedrigen, rohen und selbst gemeinen Kultus, nicht verstanden werden kann. Allein dieser Satz hilft nur die etwaige Religion des Tieres von der des fortgeschrittenen Menschen unterscheiden, wenn nicht vielleicht gewisse Tierklassen, wie die bekannten Ameisengattungen, auch Kultus besitzen. Die Entwicklungslehre kann aber nicht anders als annehmen, daß zuerst die religiösen Anschauungen des Menschen sich gar nicht von denen der Tiere unterschieden haben, aus welchen er hervorgegangen ist, und daß diese Anschauungen allmählich zu Höherem aufstiegen, indem sich gleichzeitig alle Greuel entwickelten, die den Namen Religion entweihten und entweihen. Wir wissen nicht, ob die geistigen Kräfte des Menschen zunahmen, weil seine animalischen Ausrüstungen mehr und mehr verloren gingen, oder ob das umgekehrte stattfand, daß seine animalische Ausrüstung zurückging, weil die geistigen Fähigkeiten stiegen. Der bequemste Ausweg wird sein, wenn wir annehmen, daß beides gleichzeitig stattfand, indem immer eins das andere nach sich zog. Dann mußte einerseits die Einsicht wachsen, andererseits der Trieb der Selbsterhaltung; und es scheint, daß zunächst die ganze zunehmende Einsicht in den Dienst der Selbsterhaltung gestellt worden ist. Deshalb hat sich der Mensch zunächst soviel furchtbarer als das furchtbarste Tier entwickelt, und seine Religionsanschauung ging keineswegs die stillen Wege, die viele so gerne annehmen, indem sie alle Greuel auf „Aberglauben“ schieben. Wir mögen über den Aberglauben des Kulturmenschen lachen, der auf die Türschwelle oder den Türpfosten seiner Behausung ein Hufeisen nagelt, wir mögen lachen, wenn gleichfalls Kulturmenschen sich vor dem 13ten und dem Freitag fürchten, und was der so zahlreichen Albernheiten noch mehr sind. Glauben die betreffenden Leute an sie, so haben sie zu der bekannten Religion noch eine andere. Verhalten sie sich neutral, so treiben sie all den Unfug aus Affennachahmung, „nützt es nicht, so schadet es nicht“. Glauben sie nicht daran, so machen sie sich eines Vergehens gegen den geistig schwächeren Teil der Menschheit schuldig. Aber dem Naturmenschen ist „Aberglaube“ seine eigentliche Religion, und was man bei ihm noch Mystisches und Höheres etwa findet, hat für ihn gar keine oder nur Erzählungsbedeutung.

      Andere haben den Urgrund aller religiösen Anschauungen in dem Gefühl der Schwäche gesucht, das der Mensch der ihn umgebenden Natur gegenüber hat. Er soll eine Macht über sich empfinden und diese allmählich höher und höher einschätzen lernen. Der Trieb der Selbsterhaltung würde ihn dann zur Verehrung und Anbetung dieser Macht durch Worte und Taten führen. Irregeleitet, würde der Mensch zunächst nicht eine Macht annehmen, sondern viele Mächte, und sie in dem lokalisieren, was für ihn besondere Bedeutung hat, also in Sonne, Mond, Feuer, Sturm, Gewitter, Strom, Meer u. a. Man kann sehr vieles für diese weitverbreitete Ansicht vom Ursprung der Religion beibringen. Das Gefühl einer Übermacht über sich ist schon im Tierreich vorhanden; ein kleines schwaches Mädchen kann den stärksten Hund zum hündischen Gehorsam zwingen, wie wir ja zu unserm Vergnügen oft genug sehen; der Hund hat ein Gefühl von der Übermacht des Menschleins. Dahin gehören auch solche Tatsachen aus dem Tierleben, die mit ihrem eigenen Gesellschaftsleben zusammenhängen, wenn einem Individuum selbstverständlich die Übermacht zuerkannt wird, wie bei den Bienen. Auch das Verhalten der Blattläuse gewissen Ameisenarten gegenüber dürfte auf dem Gefühl einer Übermacht beruhen; denn ohne Widerstand zu leisten und ohne einen Fluchtversuch selbst dann zu machen, wenn sie beflügelt sind, lassen sich diese Insekten von den Ameisen in deren Heim schleppen und tragen, wo sie, wie bei den Menschen das Vieh, gehegt und aufgezehrt werden. Fast denkt man an das Verhältnis des Volkes zu wilden Häuptlingen oder sinnlosen Despoten. Ist das Gefühl der Übermacht beim Menschen nur auf dem der Furcht gegründet, so würde es sich wenig von dem der intelligenteren Tiere unterscheiden. Aber beim Menschen soll noch hinzukommen, daß er auch Hoffnung auf Gutes und Erwartung von Gutem für sich auf diese Übermacht gründet. Und das wäre freilich etwas, das im Tierreiche wohl nur selten gefunden wird. Die Beispiele von Hunden, die allerhand Künste vollführen in Erwartung einer Belohnung, von Vögelchen, die auf den Ruf eines, der ihnen Samen oder Bröckchen bietet, ihm beliebig auf Hand und Schulter fliegen, dürfen, glaube ich, hier nicht angeführt werden. Es sind Erfahrungen, denen die Tiere, namentlich im Zustand der Domestikation, folgen.

      Auf dem Wege zur spiritualistischen Ansicht von der Entstehung der Religionen treffen wir die Behauptung, daß religiöse Anschauung überhaupt zur Eigenheit des Menschen gehöre, gewissermaßen apriorisch eine Kategorie, ein Regulativ seines inneren und äußeren Lebens bilde. Einen energischen Vertreter dieser Ansicht finden wir in Benjamin Constant, der sie schon im ersten Kapitel seines großen Werkes „De la réligion“ feststellt. Sofern die religiöse Anschauung in der Kategorie der Ursächlichkeit


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