Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis. Max Bernhard Weinstein

Welt- und Lebenanschauungen; hervorgegangen aus Religion, Philosophie und Naturerkenntnis - Max Bernhard Weinstein


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verweisen. Hier zitiere ich noch nach Max Müller einen Vers aus dem Rigveda, bekanntlich dem ältesten Schriftdenkmal der Indier: „Ungestützt, nicht befestigt, wie bringt er es fertig, nicht zu fallen, wenn er sich erhebt?“ „Er“ ist die Sonne.

      Was die Himmelskörper anbetrifft, so werden auch diese rein irdisch, oft menschlich oder tierisch aufgefaßt. Ich habe auch dafür in meinem obengenannten Buche Beispiele gegeben, die ich nur durch einiges ergänzen darf. Bei manchen Indianern werden Sonne und Mond so menschlich angesehen, daß sie Kinder haben. Ein Held gelangt auf dem bekannten Wege in den Himmel und in das Haus der Sonne und heiratet dort eine Tochter der Sonne. Mit seiner Frau in einem Korb herabgelassen, muß er sie in einer Hütte versteckt halten, weil sie zu stark leuchtet. Der Mond kann in Ozeanien von einem Adler verschlungen werden. Aber das Verschlungenwerden von Sonne und Mond bei Finsternissen ist ja fast in allen Erdteilen Erzählung und Glaube. Und bekannt ist der furchtbare Lärm, den viele Völker gegen den Himmel machen, um den Drachen, die Schlange, oder was es für ein Tier sein mag, von seinem Opfer zu verscheuchen. In Polynesien ist die Sonne selbst ein Ungetüm. Maui, der Herkules oder Simson der Polynesier, dem sie zu heiß ist und zu rasch läuft, lauert ihr am Aufgangsorte auf, wirft ihr eine Schlinge um den Hals, mit der er sie drosselt, während er ihr zugleich mit seiner Keule Wunde über Wunde schlägt. Da verliert das Ungetüm durch die Wunden den größten Teil der Hitze und von Siechtum matt schleicht sie nun langsam ihres Weges. Daß der Mond ein gewöhnliches Licht, eine Lampe, ist, findet sich oft erwähnt, noch öfter ist er eine alte Frau. Wunderschön klingt es, liegt aber doch auf gleichem Gebiet, wenn amerikanische Indianer die Dämmerröte für den Widerschein der Fittige eines roten Schwanes erklären:

      Kann’s die Sonne sein, sich neigend

      Überm flachen Wasserspiegel?

      Kann der Schwan es sein, der rote,

      Fließend, fliegend, wundgeschossen

      Mit dem Pfeil, dem Zauberpfeile,

      Rings die Flut mit Purpur färbend,

      Mit dem Purpur seines Herzbluts,

      Rings die Luft mit Glanz erfüllend,

      Mit dem Glanze seiner Federn?

      singt Longfellow im „Hiawatha“ nach einer Sage der Odjibwä-Indianer (in Freiligraths Übersetzung).

      Mit derartigen Anschauungen verbindet sich ein naiver Wunderglaube, der das Wunder des Wunderbaren entkleidet. Wie selbstverständlich öffnen sich Felsen auf ein Gebot sogar eines Tieres, wachsen Bäume bis in den Himmel hinein, bleibt die Sonne auf Wunsch stehen, beleben sich Klötze und Häuser. Man wird sagen, das sind Märchen – und solche kann man von den Negern in schöner Auswahl in dem hübschen Buche des Fräulein von Held und in sehr vielen Reisebeschreibungen und anthropologischen Werken lesen —, aber das Märchen hat für den Naturmenschen, wenn es nicht direkt behufs Erzählens erfunden ist, die Bedeutung, die es für das Kind besitzt, oder richtiger besaß, ehe noch der hypermoderne Realismus das Kind in den Märchen Unsinn zu sehen lehrte. Dazu kommt noch ein Umstand, auf den in einem folgenden Abschnitt einzugehen ist, und der derartigen „Märchen“ ein ganz anderes Aussehen verleiht und sie mit Mythe und Religion in Verbindung bringt. Aber diese Selbstverständlichkeit des Wunders bei den Wilden ist eines der größten Hindernisse für die Verbreitung des Christentums unter den Naturvölkern ohne Gewalt, denn für die höheren Lehren hat der Wilde nur selten Verständnis. Der Kampf ums Dasein und der naive absolute Egoismus beschäftigt sein ganzes Leben, Tun und Trachten. In den Erzählungen, die die Reisenden uns mitteilen, kommen zwar auch Züge von Großmut vor, jedoch nur selten, und solche von Menschenliebe, wie die Kulturreligionen sie verstehen, existieren kaum, selbst bei Naturvölkern, die schon in Berührung mit der Zivilisation sich befinden. Diese Tugend scheint der Mensch zu allerletzt zu lernen. Sie ist freilich die schwerste von allen, nicht allein, weil sie absolute Überwindung des Egoismus erfordert, sondern auch weil der Gegenstand der Liebe sich nur sehr selten in liebenswürdiger Gestalt gibt, wo nicht zugleich das Mitleid mitspricht. Und die Naturvölker haben keine rechte Gelegenheit, von uns auch nur aus Mitleid, geschweige aus Fühlen Liebe zu lernen. Gestalten wie Livingstone sind einzig. Indessen ist die Gewalttätigkeit, vielfach Roheit und Brutalität, mit der die Naturvölker so oft behandelt wurden, allerdings nicht der eigentliche Grund für ihren Mangel an unseren Haupttugenden. Die rein egoistische Grundlage ihres Wesens ist noch jedem, der mit ihnen in Berührung kam, aufgefallen, nicht bloß Fremden gegenüber, sondern auch gegen ihre nächsten Angehörigen. Es fehlt ihnen die Schule, die bei den Kulturvölkern nun schon Tausende von Jahren dauert, und namentlich drückt auf sie unwiderstehlich ihre Umgebung. Ein Wilder, der in eine Umgebung versetzt wird, die nach jenen hohen Lehren lebt, kann diese sehr wohl annehmen und auch in sich aufnehmen, wie die Erfahrung ja hinreichend erwiesen hat. So aber verbietet zum Beispiel ein Negerhäuptling, weil es ihm so gefällt (car tel est notre plaisir), seinem ganzen Volke den Anbau des notwendigsten Getreides auf mehrere Jahre, herrscht bei ganzen Stämmen die Sitte, die Alten und Kranken auszusetzen oder zu töten, bildet bei noch anderen die Zahl der gemordeten Menschen, in Schädeln, die auf einer Schnur gereiht getragen werden, den höchsten Ruhm des Helden, und was der Greuel noch mehr sind, an die man nicht denken mag und die man schon als Knabe in Coopers Romanen mit einem gewissen Grausen gelesen hat, während sie in der Wirklichkeit, wegen des Mangels eines jeden edleren Beweggrundes, noch viel entsetzlicher wirken würden. Wenn nicht auch hier ein Motiv vorhanden wäre, das in der ganzen Welt bekannt ist, in der ganzen Welt zu den abscheulichsten Taten geführt hat, noch jetzt bei den Kulturnationen in schönstem Flor steht, hier vielfach mit dem Fluch der Lächerlichkeit begabt, aber beim Naturmenschen dessen ganzes Leben und Tun erfüllend und lenkend – der Aberglaube. Hier verflicht sich unsere Betrachtung mit der für die nächste Klasse der Anschauungen. Diese müssen wir durch eine Sonderbetrachtung einleiten.

      7. Über den Ursprung der Religionen, Vorläufiges

      Die Bedeutung des Wortes Religion wollen wir hier im allerweitesten Sinne fassen; also dazu auch Meinung, Erzählung, Sage, Mythe rechnen, sofern sie sich auf nicht jedem zur Verfügung stehende Kräfte und Äußerungen beziehen. So weit müssen wir gehen, wenn wir von der Religion der Naturvölker sprechen.

Religion entstammt dem Ursächlichkeitsbegriff des Menschen, das heißt der Eigenheit der Seele, alles notwendig als die Folge eines anderen anzuschauen. Es kann einen Ursächlichkeitsbegriff ohne Religionen geben, aber keine Religion ohne diesen Ursächlichkeitsbegriff. Das gilt auch für geoffenbarte Religionen, da um eine Offenbarung aufzufassen schon der Ursächlichkeitsbegriff vorhanden sein muß, indem ohne diesen nichts mit einem anderen verknüpft werden kann. Wahrscheinlich gibt es kein Lebewesen ohne den Ursächlichkeitsbegriff, wie dunkel er in manchen Lebewesen auch sein mag. Aber außer diesem Ursächlichkeitsbegriff dürfte auch der Lebenstrieb ein Großes zur Entstehung von Religionen beigetragen haben. Und da dieser Trieb sich vornehmlich äußert in Begehren und Fürchten, so werden schon am Ursprung der Religionen diese Empfindungen für ihre Richtung entscheidend sein. Wie, wann und wo die Religionen ihren Ursprung nahmen, darüber bestehen bei den Forschern noch gegenwärtig unendlich viele Meinungen. Einige sehen die Religionen als Folgeerscheinung der Sprache an. Da auch Tiere in ihrer Weise sprechen können, und wir diesen doch nicht gerne religiöse Anschauungen zuschreiben möchten, muß es sich schon um eine Sprache handeln, die den Menschen vom Tiere unterscheidet. Leider wissen wir nicht recht, wo der Unterschied beginnt. Will man aber von uns selbst rückwärts schließen, so wird man meinen, daß Namen- und Begriffsbildung die entscheidenden Momente in der Sprache waren. Max Müller, der diesen Standpunkt mit größter Konsequenz vertritt, bezeichnet es als Tatsache, daß dazu die Wortwurzeln dienten, allein dienen konnten, und – was das Wesentlichste ist – daß diese Wurzeln, „infolge der Art und Weise, in der sie zuerst ins Dasein traten, Handlungen ausdrückten, die gewöhnlichen Handlungen, die auf einer früheren Gesellschaftsstufe vollführt wurden. Der Himmel war der, der bedeckt, die Sonne die, die wärmt, der Mond der, der mißt, die Wolke die, die regnet“ usf. Sah nun der Mensch z. B. das Feuer, das für ihn eine so eminente Bedeutung hat, so fiel ihm namentlich die Ruhelosigkeit dieses Elementes auf, das Flammen, Zucken, Züngeln, Springen usf. Er bezeichnete es also mit der Wortwurzel in „bewegen“, in den indogermanischen Sprachen mit AG. Da aber diese Wurzel ein Handeln des Menschen ausdrückt, eben das „Bewegen“, so kam er allmählich


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