Das Mädchen Der Verbotenen Regenbögen. Rosette
Morgen, Sir“, begrüßte ich ihn ruhig.
„Wie sind wir heute formell, Melisande“, sagte er tadelnd, als ob wir uns näher gekommen wären als nur ein einfaches gemeinsames Abendessen.
Meine Wangen brannten, und ich war mir sicher, dass ich errötete, obwohl ich keine Ahnung von der wirklichen Bedeutung dieser Worte hatte. Rot war eine dunkle Farbe, gleich dem Schwarz in meiner Welt.
„Es ist nur aus Respekt Ihnen gegenüber, Sir“, sagte ich und milderte meinen formellen Ton mit einem Lächeln.
„Ich habe nicht unbedingt viel dazu getan, um Respekt von Dir zu verdienen“, sinnierte er. „Im Gegenteil, ich bin dir sicherlich manchmal unausstehlich vorgekommen.“
„Nein, Sir“, antwortete ich, während ich mich auf einem Minenfeld bewegte. Die Gefahr, seinen Zorn zu entfachen, lauerte überall, bei jedem unserer verbalen Schlagabtausche, und ich durfte nicht unachtsam werden. Auch wenn mein Herz dies bereits getan hatte.
„Erzähle mir keine Märchen. Das ertrage ich nicht“, gab er zurück mit seinem wunderbaren Lächeln.
Ich setzte mich ihm gegenüber und bereitete mich auf die Aufgaben vor, für die ich bezahlt wurde. Mich in ihn zu verlieben war sicherlich nicht eine von ihnen. Ganz außer Frage.
Er deutete auf einen Stapel Post auf seinem Schreibtisch. „Trenn‘ bitte die Post zwischen privaten und geschäftlichen Angelegenheiten.“
Seinen Blick von seinen mit einer unbekannten Zärtlichkeit erfüllten Augen abzuwenden, war nicht einfach. Ich spürte sie weiterhin auf mir ruhen, heiß und unwiderstehlich, und ich hatte große Mühe mich auf meine Arbeit zu konzentrieren.
Ein Brief erregte meine Aufmerksamkeit, weil kein Absender verzeichnet war, und ich die Handschrift auf dem Umschlag kannte. Und da das noch nicht genügte, der Empfänger war nicht mein geliebter Schriftsteller, sondern ich selbst.
Wie gelähmt hielt ich den Umschlag in den Fingern, während sich in meinem Kopf widersprüchliche Gedanken breit machten.
„Ist irgendetwas nicht in Ordnung?“
Ich hob meinen Kopf und unsere Blicke trafen sich. Er starrte mich aufmerksam an, und ich merkte, dass er dies schon die ganze Zeit getan hatte.
„Nein, ich ... Es ist alles in Ordnung ... Es ist nur…“ Und plötzlich befand ich mich in einem Labyrinth, einem Dilemma: soll ich es ihm von dem Brief sagen oder nicht? Wenn ich nichts sagte, bestände die Gefahr, dass es Kyle ihm später erzählen würde. Er übernahm normalerweise die Post und legte sie ihm auf den Schreibtisch. Oder vielleicht hatte er es gar nicht bemerkt, dass ein Brief einen anderen Empfänger hatte. Konnte ich darauf hoffen und den Brief zu einem späteren Zeitpunkt zur Seite legen? Nein, unmöglich. Mc Laine war zu analytisch und es entging ihm nichts. Das Gewicht meiner Lüge trat zwischen uns.
Er streckte seine Hand aus und brachte mich so in starke Bedrängnis. Er spürte meine Unentschlossenheit, und verlangte es mit seinen eigenen Augen zu sehen.
Mit einem schweren Seufzer reichte ich ihm den Umschlag.
Er löste seinen Blick von mir für nur eine Sekunde, gerade lang genug, um den Namen auf dem Umschlag zu lesen, dann sah er mich erneut an. Die Feindseligkeit spiegelte sich in seinen Augen wieder, ein Gefühl so dick wie Nebel, klamm wie Blut, schwarz wie Misstrauen.
„Wer schreibt dir, Melisande Bruno? Ein Verlobter in der Ferne? Ein Verwandter? Ah, nein, wie dumm von mir. Du hast mir ja gesagt, dass sie alle tot sind. Und? Vielleicht ein Freund?“
Er spielte mir den Ball zu und ich ergriff ihn ohne zu Zögern und fuhr mit meiner Lüge fort. „Das wird meine ehemalige Mitbewohnerin sein. Jessica. Ich wusste, dass sie mir schreiben würde, ich hatte ihr die Adresse gegeben“, sagte ich und war selbst davon überrascht, wie die Worte so natürlich und doch so falsch aus meinem Mund flossen.
„Dann lies ihn doch. Du wirst es doch kaum erwarten können. Mach dir keine Sorgen, Melisande.“ Seine Stimme war honigsüß mit einem Spritzer erschreckender Grausamkeit. In diesem Moment wurde mir klar, dass mein Herz noch da war, entgegen meiner früheren Annahme. Es war aufgebläht, synkopisch, vom Rest meines Körpers losgelöst. Genauso wie mein Geist.
„Nein ... es ist nicht so dringend ... später, vielleicht ... Ich meine ... Jessica wird keine große Neuigkeiten haben ...“, stammelte ich und versuchte seinen eisigen Blick zu vermeiden.
„Ich bestehe darauf, Melisande.“
Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir die Süße von Gift bewusst, seinem betörenden Duft und seinem trügerischen Charme. Denn seine Stimme und sein Lächeln offenbarten seine Wut nicht. Nur seine Augen verrieten ihn.
Ich nahm den Umschlag mit den Fingerspitzen, so als ob ich mich dadurch infizieren könnte.
Er wartete. In diesen bodenlosen Augen war ein Hauch von sadistischem Vergnügen zu erkennen.
Ich steckte den Umschlag in meine Tasche. „Er ist von meiner Schwester.“ Die Wahrheit entwich aus meinem Mund, und ich fühlte mich befreit, auch weil es sicherlich keinen Weg gab, sie zu vermeiden. Er schwieg und ich setzte tapfer meine Erklärung fort.
„Ich weiß, dass ich gelogen habe, über meine Familie, aber ... Ich bin wirklich allein in der Welt. Ich…“. Meine Stimme versagte. Ich versuchte es noch einmal. „Ich weiß, dass es falsch war, aber ich wollte nicht über sie reden.“
„Sie?“
„Ja. Mein Vater ist auch noch am Leben. Aber nur, weil sein Herz noch schlägt.“ Meine Augen beschlugen sich mit Tränen. „Er vegetiert eigentlich nur noch vor sich hin. Er ist Alkoholiker im letzten Stadium und erinnert sich nicht einmal daran, wer wir sind. Monique und ich, meine ich.“
„Es war dumm von Ihnen zu lügen, Miss Bruno. Hatten sie nicht daran gedacht, dass Ihnen Ihre Schwester schreiben würde? Oder vielleicht sind sie einfach untergetaucht, um sich nicht um Ihren Vater kümmern zu müssen, und die ganze Last jemand anderem aufzubürden?“ Die Stimme erklang im Arbeitszimmer so tödlich wie ein Gewehrschuss.
Ich schluckte meine Tränen hinunter und starrte ihn trotzig an. Ich hatte gelogen, das war nicht zu leugnen, aber er stellte mich wie ein verwerfliches Etwas dar, das es weder verdient hat zu leben, noch respektvoll behandelt zu werden.
„Ich erlaube Ihnen nicht, über mich zu urteilen, Mr. Mc Laine. Sie wissen nichts über mein Leben, oder über die Gründe, warum ich gelogen habe. Sie sind mein Arbeitgeber, und nicht mein Richter und umso weniger mein Henker“. Die gewagte Ruhe, mit der ich gesprochen hatte, überraschte mehr mich selbst als ihn, und ich legte meine Hand auf den Mund, der scheinbar an meiner Stelle geredet hatte, losgelöst vom Geist, mit der Eigenständigkeit, die auch mein Herz oder meine Träume von mir trennte.
Ich stand schnell auf und warf den Stuhl nach hinten um. Ich hob ihn mit zitternden Händen auf, mein Geist befand sich in katatonischer Starre.
Ich war schon an der Tür angekommen, als er mit eiskalter Härte sprach. „Nehmen Sie den Rest des Tages frei, Miss Bruno. Sie kommen mir ziemlich aufgewühlt vor. Wir sehen uns morgen.“
Ich erreichte mein Zimmer wie in Trance, und rannte ins angrenzende Bad. Hier wusch ich mein Gesicht mit kaltem Wasser, und studierte mein Spiegelbild. Das war zu viel. Das ganze Schwarz und Weiß, das mich umgab, war noch furchterregender als ein Leichentuch. Ich fühlte mich gefährlich nahe einem Abgrund balancieren. Mich erschreckte der Gedanke zu fallen kein bisschen. Ich war schon so oft gefallen, und ich bin immer wieder aufgestanden. Meine Haut und mein Herz waren mit Millionen von unsichtbaren und schmerzhaften Narben übersät. Ich hatte Angst, den Verstand zu verlieren, die Klarheit, die mich bis dahin am Leben erhalten hatte. In diesem Fall würde ich eher den Abgrund hinunterstürzen.
Die nicht vergossenen Tränen zerwühlten meine Eingeweide und machten mich fix und fertig. Ich fühlte mich wie ein Zombie, wie der Protagonist in einem der Romane von Mc Laine.
Meine Hand tastete in der Tasche meines Tweedrocks, in die ich den Moniques Brief gesteckt hatte.