Soll und Haben. Gustav Freytag
»Herr Wohlfart, der neue Lehrling, soeben angekommen. – Herr von Fink, Sohn der großen Firma Fink und Becker in Hamburg.«
»Erbe des größten Tranvorrats von der Welt und so weiter«, unterbrach ihn Herr von Fink nachlässig. »Jordan, geben Sie mir zehn Taler, ich will den Reitknecht bezahlen. Schreiben Sie’s zu dem übrigen.« Jordan holte bereitwillig ein Kassenbillett aus seiner Brieftasche und überreichte es dem Jockei, der es zusammenknitterte und in die Westentasche steckte; worauf er mit einiger Höflichkeit zu Anton sagte: »Wenn Sie mich besuchen wollen; wie ich aus dem festlichen Gesicht Ihres Merkurs merke, so bedauere ich, heute nicht zu Hause zu sein, ich will ein neues Pferd kaufen. Ihren Besuch nehme ich als geschehen an, ich danke Ihnen in aller Feierlichkeit dafür und gebe Ihnen meinen Segen zu Ihrem Eintritt.« Er nickte gleichgültig mit dem Kopf und schritt klirrend die Stufen hinab und über die Steinplatten des Hofes.
Antons Behagen erlitt durch das kühle Benehmen des Herrn einen großen Stoß, und er dachte verschüchtert: Wenn die andern Herren vom Geschäft ebenso sind, so wird es mir schwer werden, mit ihnen umzugehen. Auch Herr Jordan fand nötig, das auffallende Benehmen des Jockeis zu erklären, und sagte mit vertraulicher Wichtigkeit: »Fink gehört nur halb in unser Geschäft, er ist erst seit kurzer Zeit hier, von seinem Vater aus New York gezogen und hierher versandt worden, um bei uns vernünftig zu werden.«
»Ist er denn nicht vernünftig?« fragte Anton neugierig.
»Nur zu wild, liebt den Sport, ist aber sonst ein guter Gesellschafter«, sagte Herr Jordan. »Die andern Herren habe ich zu mir auf die Stube gebeten, um Sie mit allen bekannt zu machen; wir werden dort eine Tasse Tee trinken. Morgen machen Sie den einzelnen Besuch auf ihren Zimmern.«
Die Stube des Herrn Jordan war die größte unter den kleinen Wohnungen des Hinterhauses, in welchem die Herren vom Kontor einzeln oder zu zweien hausten, und wurde deshalb und wegen der ansprechenden Gemütsart ihres Bewohners zuweilen als Salon benutzt; sie genoß die Auszeichnung, ein Fortepiano und einige Armstühle zu besitzen. An den Fenstern hingen zahlreiche Biskuitbilder, in denen edle Weiblichkeit durch mittelalterliche Kirchgängerinnen, Loreleis und Madonnen vertreten war. In diesem Zimmer saßen und standen die Herren und erwarteten die Ankunft des Neulings. Anton machte die Massenvorstellung mit Erfolg durch, indem er jedem einzelnen die Hand schüttelte und hintendrein alle zusammen um ihr Wohlwollen und freundliche Hilfe bat, weil er im Geschäft ganz unerfahren und noch gar nicht in der Welt und wenig unter Menschen gewesen sei. Diese Offenheit verfehlte nicht, einen guten Eindruck hervorzubringen. Darauf ging eine friedfertige Unterhaltung an, gewürzt mit kleinen Scherzen und Anspielungen, welche für einen Neuling so unverständlich als möglich waren. Anton verhielt sich schweigend und mühte sich, das Wesen der einzelnen Herren zu erkennen. Da war der Buchhalter, Herr Liebold, ein ältlicher kleiner Mann mit einer feinen Stimme und einem bescheidenen Lächeln, durch welches er die Welt um Vergebung bat, daß er sich die Freiheit nehme, vorhanden zu sein. Er sprach wenig, hatte aber die Eigenschaft, im Nachsatz das zurückzunehmen, was er im Vorsatz behauptete; z. B.: »Ich glaube fast, daß dieser Tee zu schwach ist, aber freilich ist starker Tee sehr ungesund.« Ferner war da Herr Pix, der tyrannische Führer des schwarzen Pinsels in dem Hausflur, ein entschlossener Mann, welcher geneigt schien, alle menschlichen Verhältnisse wie Detailgeschäfte zu betrachten, vielleicht respektabel, aber kleinlich. Als ein Stuhl im Zimmer fehlte, rückte er verächtlich einen kleinen Tisch in die Nähe des Tees, schwang sich darauf und blieb den ganzen Abend rittlings darauf sitzen. Ferner war da ein Herr Specht, welcher viel sprach und stark in Behauptungen war, die von jedermann bestritten wurden. Er behauptete, China werde durch eine Konstitution regiert, die von der englischen nur wenig verschieden sei, und verfocht mit Leidenschaft die Ansicht, daß Schneckensuppe das Lieblingsgericht des seligen Kaisers Napoleon gewesen sei. Ferner war da ein schmächtiger Herr Baumann mit kurzgeschorenem Haar und sinnigem Wesen, welcher jeden Sonntag in die Kirche ging, allen Missionsvereinen Beiträge zahlte und, wie seine Kollegen ihm auf den Kopf zusagten, die Absicht hatte, später einmal Missionar zu werden. Er schob das noch auf aus einer gewissen kindlichen Gewöhnung an Deutschland und die Firma, zu deren Nutzen er gegenwärtig arbeitete. Anton bemerkte mit Freuden, daß im ganzen ein artiger und rücksichtsvoller Ton unter den Herren herrschte. Da er ermüdet war, empfahl er sich in kurzem, und weil er niemandem widersprochen hatte und gegen alle zuvorkommend gewesen war, so wurde nach seinem Abgange erklärt, er verspreche ein guter Kollege zu werden.
Unterdes schritt Veitel Itzig mit der Gleichgültigkeit eines Herumtreibers und der Sicherheit eines Eingeborenen durch das Gewirr der Menschen und Straßen. Das rötliche Licht der Abendsonne war von den Steinen der Straße an den Häusern hinaufgestiegen, von einem Fenstersims zu dem andern bis hoch auf die Dächer, und das Dunkel des Abends erfüllte die engen Gassen des alten Stadtteils, welcher am Flusse liegt. In einer solchen Gasse stand ein großes Haus mit breiter Front. Die untern Fenster waren durch Eisenstäbe vergittert, im ersten Stockwerk glänzten die weißen Rahmen, welche große Spiegelscheiben einfaßten, unter dem Dach waren die Fenster blind, schmutzig, hier und da eine Scheibe zerschlagen. Es war kein guter Charakter in dem Hause, wie eine alte Zigeunerin sah es aus, die über ihr bettelhaftes Kostüm ein neues buntes Tuch geworfen hat.
In dieses Haus trat Veitel Itzig, indem er einem geputzten Dienstmädchen an der Tür schnalzend einen Kuß zuwarf, den diese wie eine heranfliegende Wespe pantomimisch mit der Hand fortscheuchte. Die unsaubere Treppe führte zu einer weißlackierten Entreetür, auf welcher in großem Messingschild der Name: ›Hirsch Ehrenthal‹ zu lesen war. Veitel faßte den dicken Porzellangriff der Klingel und schellte, ein ältliches Frauenzimmer mit zerknitterter Haube öffnete einen schmalen Spalt und fragte, die Nase hinaussteckend, nach seinem Begehr, dann riß sie die Stubentür auf und rief in das Zimmer: »Es ist einer da, Itzig Veitel heißt er, aus Ostrau, er will den Herrn Hirsch Ehrenthal sprechen.« Aus der Stube scholl die Stimme des Hausherrn: »Warten soll er!«, und das Geklirr von Tellern verriet, daß der Geschäftsmann erst das Familienglück des Abendessens genießen wollte, bevor er dem künftigen Millionär Audienz gab. Die aufwartende Person warf mit mißtrauischen Blicken auf den Ankömmling die Tür wieder zu und sperrte ihn aus.
Veitel setzte sich auf die Treppe und sah mit starren Augen auf das Messingschild und die weiße Tür, bewunderte die abgeschrägten Ecken der Messingplatte und versuchte sich vorzustellen, wie der Name Itzig auf einer ebensolchen Platte an einer ähnlichen weißen Tür aussehen würde. Darauf kam er auf geradem Wege zu der Betrachtung, wieviel ihm noch fehle, um so reich zu sein wie Hirsch Ehrenthal; er fühlte nach einem halben Dukaten, welchen ihm seine alte Mutter mit einem Lederfleck in das Futter seiner Weste eingenäht hatte, und überlegte, wieviel er alle Tage dazu sparen könnte, vorausgesetzt, daß ihm der reiche Mann Gelegenheit ließe, etwas zu verdienen. Er war tief in Betrachtungen versunken über den Wert von zwei Phantasiestiefeln, welche er sich auf den Beinen eines jungen Elegants vorstellte und welche nach seiner Annahme den dreifachen Wert des Viergroschenstücks haben mußten, das er dem eleganten Herrn dafür bieten wollte; da wurde die Entreetür mit starker Hand aufgemacht, und Herr Ehrenthal stand vor dem armen Bocher. Das war nicht mehr der Mann von heut nachmittag, die anschmiegende Freundlichkeit war verschwunden wie der Duft einer Rose am Ende des heißen Tages, er war ganz Majestät, Selbstgefühl, Despotismus; kein asiatischer Kaiser kann so stolz auf die Kreatur vor seinen Füßen heruntersehen, als er auf das Kind von Ostrau zu blicken verstand. Itzig fühlte das Bedeutende in der Stellung des großen Mannes und seine eigene Nichtigkeit trotz der sechs Dukaten im Ledersäckchen, er schnellte in die Höhe und stand demütig vor seinem Meister. »Hier ist ein Brief von Baruch Goldmann, bei welchem der Herr Ehrenthal mich hat verschrieben für sein Geschäft«, begann Veitel und hielt dem großen Mann einen Brief entgegen.
»Ich habe dem Goldmann geschrieben, er soll mir einen Menschen schicken, den ich mir ansehe, ob ich ihn brauchen kann; gemacht ist noch nichts«, sprach Ehrenthal vornehm und öffnete das Schreiben.
»Ich bin doch gekommen, damit Sie mich ansehen«, entgegnete Veitel.
»Und was kommst du so spät, junger Itzig? Es ist keine Zeit mehr zur Rede vom Geschäft«, schnarrte ihn der Hausherr an.
»Ich wollte mich melden bei meinem Herrn Hirsch Ehrenthal zum Dienst noch heut abend, wenn er mir hat zu geben einen Auftrag für morgen früh.«
»Davon ist zu reden morgen früh«, antwortete