Der Held von Garika. Adolf Mützelburg
Der Diener bejahte und antwortete, die Wohnung dieses Herrn befinde sich im, westlichen Teil der Stadt, in der Nähe der Vorstädte, und bezeichnete sie genauer. George fragte, ob er zufällig davon gehört, dass Fremde, Engländer, bei Herrn Wiedenburg angekommen seien. Der Diener verneinte.
»Ich war erst gestern bei dem Herrn im Auftrage des Herrn Konsuls«, fügte er hinzu, »ich habe aber keinen Fremden dort bemerkt. Wenn Sie Herrn Wiedenburg sehen, so sagen Sie ihm nur, er möge entweder in seiner Wohnung bleiben oder außerhalb der Stadt einen sichern Ort aufsuchen. Die Türken sind nicht gut auf uns zu sprechen – ich meine den Pöbel, der jetzt die wehrlosen Fremden zerreißen möchte, nachdem er keinen Mut gehabt, sich gegen die Russen zu verteidigen. Herr Wiedenburg möchte sich nicht auf der Straße zeigen!«
Die Wanderung musste von neuem begonnen werden. George fühlte sich von der Aufregung und von den Gräueln, die er gesehen, so matt, dass er sich auf Johnnys Arm stützte. Auch hatte er die Nacht schlaflos in dem kleinen Boote zugebracht, das am Morgen des vergangenen Tages Konstantinopel verlassen. Er fühlte sich fast krank. Johnny bedauerte, seine Rumflasche im Boot zurückgelassen zu haben, wo die faulen Türken sie wahrscheinlich leichter machen würden.
Nach langer Wanderung, nach vielem, meist vergeblichem Hin- und Herfragen erreichten sie das Haus, in welchem Wiedenburg wohnte. Aber was leicht zu erwarten gewesen, traf ein. Der Deutsche hatte sich nach der Stadt begeben, um sich bei den Konsuln zu erkundigen, welches Schicksal der Stadt bevorstehe. Auf die Frage nach Mr. Hywell antworteten die Diener, dass allerdings schon seit Wochen einige Zimmer für die Ankunft von Fremden bereitgehalten würden, dass diese Fremden aber noch nicht angekommen seien. George wollte sich entfernen, aber die Diener baten ihn und Johnny, zu bleiben. Sie mochten glauben, dass die Anwesenheit eines jungen Mannes mit orientalischem Gesicht und eines Mannes im englischen Matrosenanzuge zu ihrer Sicherheit dienen könne, und sprachen mit Besorgnis von einer bevorstehenden Plünderung. George nahm das Anerbieten gern an.
Die Diener brachten Tee und Wein, und der ermattete junge Mann setzte sich nieder, um feinen Gedanken nachzuhängen. War doch wenigstens eine Last von ihm genommen! Mr. Hywell und seine Tochter hatten sich nicht in Sinope befunden! Und doch hätte er andererseits gewünscht, sie zu sehen. Er konnte und wollte Sinope nicht verlassen, um einen Plan auszuführen, der über seine Zukunft, vielleicht sein ganzes Leben entscheiden musste, ohne Mr. Hywell noch einmal wiedergesehen zu haben. Je länger dieser fernblieb, desto länger musste der Aufenthalt Georges in Sinope währen – ein untätiger Aufenthalt. Und nichts erschien dem jungen Manne, dessen Seele sich in glühender Ungeduld verzehrte, qualvoller als die Untätigkeit.
Johnny spazierte indessen auf dem platten Dache auf und ab und beobachtete die Bewegungen der russischen Schiffe, die vor Anker gingen und die erhaltenen, nicht bedeutenden Beschädigungen ausbesserten. Er sah, wie eine Menge Ertrunkener aus dem Hafen aufgefischt wurden und ein russisches Parlamentärboot nach der Stadt ruderte, aus welcher immer noch Hunderte nach den westlichen Bergen flohen. Gewiss machte sich Johnny seine Gedanken über das, was er gesehen: Eine stattliche Flottille und Tausende von Menschenleben in dem kurzen Zeitraume zweier Stunden vernichtet! Einige Mastspitzen, die aus den leichtbewegten Wellen des Hafens hervorragten, die einzigen zerbrechlichen Denkmäler dieser grauenvollen Zerstörung! Aber sein rotes Gesicht blieb ruhig, selbst wenn er zuweilen ein Goddam! murmelte, und er rauchte gleichmütig seine kurze Pfeife, die er glücklicherweise nicht in dem Boot vergessen wie die Rumflasche.
Es dämmerte bereits, als Johnny hinabging. Er fand George auf seinem Stuhle schlummernd. Mit einer gewissen Teilnahme betrachtete der robuste Engländer das feine, blasse Gesicht des jungen Mannes, das selbst im Schlafe noch die Spuren innerer Unruhe trug. Er schüttelte den Kopf.
»Der muss etwas vorhaben!« brummte er vor sich hin. »Miss Mary ist’s nicht allein, die in ihm spukt. Nun, werden’s bald erfahren. Möchte wissen, was er eigentlich ist. Hielt ihn immer für einen Russen. Was liegt denn eigentlich da drüben für ein Land, im Osten des Wassers?«
Und er grübelte vor sich hin.
Das Eintreten eines Dieners weckte George; der Diener meldete, dass Herr Wiedenburg in der Nähe mit einigen Türken sprechend gesehen worden sei, dass er also wohl bald kommen werde. George erhob sich und schritt durch das Zimmer.
»Das war ein böser Tag, Johnny!« sagte er.
»Der erste Kampf, den ich in der Nähe gesehen habe, zeigte mir eine Niederlage der Türken. Der Tod ist grässlicher, als ich glaubte!«
»Nun, Sir«, meinte Johnny, »das ist er, aber doch nicht so schlimm, wie man glaubt. Ich kann zwar nicht viel mitreden von Schlachten, hab’ nur einmal drüben in China auf einem Kauffahrer ein hitziges Gefecht mit Piraten bestanden; doch wenn man mitten drunter ist, so merkt man’s weniger. Aber das Morden und die Toten zu sehen, ohne selbst teilzunehmen, ohne dass einem das Blut in den Adern kocht, ja, das ist hässlich. Der Anblick heut in der Stadt hat mir nicht gefallen!«
»Ich fürchte, das ist ein böses Vorzeichen, Johnny!« sagte George und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»Für wen, Sir?«
»Nun, für den Kampf überhaupt und für mich!« antwortete George.
»Wollen Sie denn in den Kampf, Sir?« fragte Johnny. Und als der junge Mann nicht sogleich antwortete, fuhr er fort: »Oder meinen Sie die Engländer und Franzosen? Sie glauben doch nicht, dass die sich von den Russen so zurichten lassen würden wie die Türken? Die werden’s den Russen schon eintränken, warten Sie nur! So ungeschickt wird sich eine englische Flotte nicht aufstellen. Die Batterien konnten ja nicht feuern! Und die Tapfersten scheinen mir diese Herren Türken heute auch nicht gewesen zu sein. Etwas saurer hätten sie’s den Russen schon machen können, trotz der Überrumpelung! Scheinen sich sehr sicher hier gefühlt zu haben, die Herren Rotkappen, sonst hätten sie sich nicht so faul vor die Stadt gelegt und vergessen, Wache zu halten.«
Ein Herr trat ein, und Johnny unterbrach seine strategischen Betrachtungen. Es war ein bereits bejahrter Mann, der sich sogleich an George mit der Frage in englischer Sprache wandte, ob er es gewesen, der ihn zu sprechen gewünscht.
»Mein Name ist George, ich bin der Pflegesohn von Mr. Hywell«, antwortete der junge Mann.
»Willkommen dann!« antwortete Wiedenburg, ihm die Hand reichend. »Sie wollen Nachrichten über Mr. Hywell hören. Er ist noch nicht angekommen, auch vermute ich, dass er vielleicht nicht seinen Weg über Sinope nimmt. Aber ich will Ihnen die Briefe Mr. Hywells, zeigen. Kommen Sie mit mir!«
George folgte dem Deutschen nach dessen Wohnzimmer und fragte im Gehen nach dem Schicksal, das der Stadt bevorstehe.
»Nun, das Schlimmste scheint vorüber«, antwortete Wiedenburg. »Freilich, viel schlimmer für die Türken konnte es nicht werden! Indessen wäre eine Plünderung der Stadt doch immer ein trauriges Nachspiel zu diesem grässlichen Ereignis gewesen. Die Flotte ist vernichtet, vier- bis fünftausend Türken sind getötet, einige hundert gefangen. Über das Schicksal der beiden Admirale, Hussein- und Osman-Paschas, wissen wir noch nichts Genaues. Admiral Nachimow hat dem österreichischen Konsul angezeigt, dass er das Privateigentum respektieren wolle und dass die Feuersbrunst in der Stadt nicht von ihm beabsichtigt worden sei. Umso mehr haben wir eine Plünderung von Seiten der Türken zu fürchten; der Pöbel benutzt ja gern derartige Gelegenheiten, um sich für die überstandene Angst durch Gräueltaten an Unschuldigen zu entschädigen. Schon bedroht man Mr. Pirjantz, und beschuldigt ihn des Einverständnisses mit den Russen, weil Nachimow den Parlamentär an ihn geschickt. Zu wem soll er denn senden, wenn die andern Konsuln nicht zu finden sind? Nun, ich hoffe, die Gefahr wird vorübergehen. Im Notfall müssen wir die Russen um Schutz ersuchen. Nehmen Sie Platz, Sir! Hier sind die Briefe.«
Ein Diener brachte Licht, und George durchflog die Briefschaften, die Wiedenburg ihm reichte.
Mr. Hywell, den er seinen Pflegevater genannt, war ein reicher englischer Kaufmann, das Haupt eines großen Handlungshauses und als ein sehr erfahrener Mann oftmals von dem Handelsministerium zu Rate gezogen und zu Missionen verwendet. Teils im Auftrage der Regierung, teils in eigenen Angelegenheiten hatte er vor mehr als zwei Jahren eine Reise nach Ostindien unternommen. Der Aufenthalt dort war durch mancherlei Umstände verlängert worden; jetzt wollte Mr. Hywell über Persien zurückkehren