Lache Bajazzo. Artur Landsberger
Berlin. Und als er am Abend des neunten Tages vor seinem Coupé stand und der Schaffner an ihn herantrat und sagte: »So steigen Sie doch ein! Wir fahren ab,« da schloß er Agnes, trotz den vielen Menschen, die ihm das Geleite gaben, in die Arme, küßte sie und drückte sie an sich.
»In zehn Tagen!« sagte er, und die Tränen, die ihm in den Augen standen, und der Ausdruck seines Mundes, um den sich scharf jedes seiner Gefühle prägte, zeigten, wie ihm ums Herz war.
Das Zeichen ging in die Höhe; der Zug setzte sich in Bewegung.
Carl nickte den anderen flüchtig zu und sprang behende wie ein Jüngling in den Zug, riß das Fenster herunter, beugte den Oberkörper heraus und winkte mit beiden Armen Agnes zu, als wenn er sie noch in letzter Minute zu sich emporziehen wollte.
Und Agnes lächelte und nickte, trippelte noch ein paar Schritte neben dem Zug her und rief ihm, als die Maschine schon aus der Bahnhofshalle fuhr, mit ihrer weichen Stimme zu:
»Denk an dein Vögelchen!«
Und wer ihn so sah, wußte, daß er an nichts anderes denken würde. —
»Wie ausgewechselt seit ein paar Tagen,« sagte der Direktor.
Ja! die Weiber!« rief der Geheimrat, lachte und hielt sich den Bauch.
Der alte Brand stand in Gedanken, schüttelte den Kopf und sagte:
»Mir gefällt das nicht!«
»Philister!« sagte der Direktor und klopfte ihn auf die Schulter. »So gönnen Sie ihm doch diese harmlose Eskapade.«
»Wenn es das wäre,« erwiderte Brand, »vom Herzen gern! Aber ihr kennt ihn nicht! Wie seine Dichtung, so ist der ganze Mensch. Tiefgründig – schwerblütig – gradlinig!«
»Was heißt das, gradlinig?« fragte der Geheimrat.
»Daß er seiner ganzen Natur nach unkompliziert ist, daß es die tausend Nebenstraßen, die unser Leben erst bunt und abwechslungsreich machen, für ihn nicht gibt. Nicht geben kann, da er in seinem Handeln ebenso primitiv ist wie in seinem Gefühl. Und darin liegt auch seine beste Kraft: in dieser Einheit. Ein Guß das Ganze. Da ist, wenn’s sich um das Gefühl handelt, kein Bruch, kein Sich-teilen, kein Kompromiß möglich!«
Der Geheimrat verzog das Gesicht.
»Das ist mir zu hoch,« sagte er. »Aber den Menschen möcht’ ich sehen, der heute, ohne Kompromisse zu machen, weiter kommt.«
»Das Genie schon,« sagte Brand, »das Talent freilich nicht.«
»Nu, da is mir schon lieber, ich bin kein Genie.«
»Und dann fürchte ich . . .« fuhr Brand fort, brach aber ab, da Agnes nur noch ein paar Schritte von ihm entfernt war.
Und während den alten Brand die innere Wandlung Carls mit Sorge erfüllte, dachte Werner über die Veränderung nach, die sich in der kurzen Zwischenzeit mit Agnes vollzogen hatte:
Am Morgen nach jener an Ereignissen reichen Nacht war der Zusammenschluß zwischen Carl und Agnes bereits vollzogen. Beide erklärten bestimmt und feierlich, nicht mehr voneinander lassen zu können. Carl aus der Tiefe seines Herzens heraus und aus innerster Ueberzeugung, Agnes, nachdem sie die Daseins- und Entwickelungsmöglichkeiten, die ihr ein Anschluß an Carl versprach, gegenüber dem Leben an der Seite Ottos und im Ferkel gewissenhaft gegeneinander abgewogen hatte. Und das hatte ein so gewaltiges Plus zugunsten Carls ergeben, daß sie schon am nächsten Morgen nicht nur in die Trennung von Otto und in die Aufgabe ihrer künstlerischen Tätigkeit im Ferkel einwilligte, sondern für Carl sogar so etwas wie eine, freilich mehr kindliche und schülerinnenhafte Zuneigung verspürte.
Die Auseinandersetzung mit Otto und dem Besitzer des Ferkels, die rein geschäftlicher Natur war, hatte sich nicht ganz glatt vollzogen. Otto hatte seine »Braut« ganz ungeniert als ein Wertobjekt von vielseitigen Möglichkeiten bezeichnet und sich auf das Sachverständigenurteil des Ferkelwirtes berufen. Der prophezeite Agnes eine große Zukunft und meinte:
»Wenn ick der zwischen die Finger behalte, macht se ’ne Karriere wie die Perle vom Ganges.«
Und als Werner, der für Carl handelte, fragte, was das denn in Zahlen ausgedrückt bedeute, da sagte der Wirt:
»De Woche zweiunddreißig Mark.«
Als man sich schließlich geeinigt hatte, sagte Otto:
»Einmal will ick ihr aber noch sehen.«
Kein Angebot vermochte ihn von dieser Forderung abzubringen. Und Werner setzte es erst nach vielem Reden durch, daß er dieser Begegnung beiwohnen durfte. Ein Tag der übernächsten Woche wurde vereinbart. —
Agnes kam zu Werners Freundin, die auf den Namen Lori hörte und ein guter Mensch war. Sie wurde vom Kopf bis zu den Füßen neu eingekleidet, begeisterte sich an jedem Stück, das man ihr zeigte, fiel abwechselnd Lori, dem Verkäufer und Carl, der leuchtenden Auges alles miterlebte – denn für ihn war alles das ein Erlebnis – um den Hals und tanzte zur Verwunderung der anderen Kunden mit ihnen durch die Verkaufsräume.
Und Carl, Lori und der Verkäufer staunten über die Sicherheit, mit der sie unter Hunderten von Dingen auf den ersten Blick stets das herausfand, was sie am besten kleidete, über die Grazie, mit der sie in die feine batistene Wäsche und die seidenen Röckchen schlüpfte, über den Charme, mit dem sie ihr erstes Korsett anpaßte und sich die dünnen Seidenstrümpfe überzog; vor allem aber über die Natürlichkeit, mit der sie sich in allen diesen ihr ungewohnten Dingen bewegte, als wenn sie nie etwas anderes getragen hätte. Und als sie dann als neuer Mensch vor den Spiegel trat, da war sie von dem Zauber, der von ihr ausging, selbst betroffen, fiel Carl um den Hals und rief:
»Sieh nur, was ihr aus mir gemacht habt!«
Und als Carl sie jetzt fragte:
»Möchtest du noch immer dahin zurück?« da schüttelte sie sich, sagte: »Bex!« und spuckte aus.
Lori und der Verkäufer wichen unwillkürlich ein paar Schritte zurück, sahen sich an und lachten. —
Gleich am ersten Abend saß Agnes an Carls Seite unten in der Direktionsloge des Neuen Theaters. Es war die erste Wiederholung seiner griechischen Tragödie. Das Haus war ausverkauft. Der Beifall womöglich noch größer als am ersten Abend. Man erkannte Carl in der Loge und huldigte ihm stürmisch nach jedem Akt; mehrmals sogar auf offener Szene.
Agnes erschien das anfangs alles wie ein Traum. Aber schnell fand sie sich in das neue Bild, fragte Carl neugierig nach tausend Dingen. Und Carl freute sich über ihre Ahnungslosigkeit, war oft erstaunt, wie scharf sie beobachtete, und es bereitete ihm Genuß, sie diese neue Welt durch seine Augen schauen zu lassen.
Als man Carl huldigte und aller Augen auf ihre Loge gerichtet waren, zeigte sie mehr Geistesgegenwart als er. Er fühlte sich geniert und war verlegen, nahm ihre Hand und drückte sie. Aber Agnes flüsterte ihm zu: »Steh auf!« Sofort erhob er sich. »Verbeug dich!« Und er drückte ihre Hand noch fester und verbeugte sich mehrmals kurz hintereinander. »Genug!« sagte sie und zog ihn auf den Stuhl zurück. Das Publikum wandte sich wieder zur Bühne.
»Wie gut, daß ich dich bei mir habe,« sagte er in einem Gefühl der Sicherheit.
Weit mehr als für das Stück interessierte sich Agnes für Estella von Pforten. War die nicht auf der Bühne, dann war sie unaufmerksam, langweilte sich wohl gar und sah in die Logen und ins Parkett. Und wenn sie dann regelmäßig feststellte, daß vieler Augen auf sie gerichtet waren, freute sie sich und lächelte auch hin und wieder. Im Augenblick aber, wo Estella von Pforten auftrat, verschwand für sie alles andere.
»Wie macht man das?« fragte sie einmal ganz erregt, als der Vorhang fiel. Und Carl freute sich über ihre Regsamkeit und wollte ihr klar machen, wie die Idee zu der Tragödie in ihm entstanden sei.
»Aber nein!« unterbrach sie ihn. »Ich will wissen, wie diese Person das anstellt, so eine ganz andere zu sein.«
»Dazu gehört viel Talent und großer Fleiß,« sagte er.
»Meinst du, daß ich das könnte?« fragte sie erregt und wartete ängstlich auf seine Antwort.
»Ja! Das glaube