Die verlorene Handschrift. Gustav Freytag
über den Platz und athmeten erfrischt den Balsam der feuchten Luft. Der Hofverwalter kam und berichtete, daß es zweimal in den Berg nebenan geschlagen. Auch der Landwirth ritt in starkem Trabe herein, tüchtig durchnäßt, um zu sehen, ob Haus und Hof ihm unversehrt geblieben. Er sprang fröhlich vom Pferde und rief: »Es hat draußen eingeweicht, aber Gottlob, daß es so vorübergegangen. Solch Wetter ist hier seit Jahren nicht erlebt.« Die Leute hörten noch eine Weile, wie der Großknecht erzählte, daß er eine Wassersäule gesehen, die als ein großer Sack vom Himmel bis zur Erde hing, und daß es jenseit der Grenze stark gehagelt. Dann traten sie gleichmüthig in die Ställe und genossen die Ruhestunde, die ihnen das Unwetter vor der Zeit verschaffte. Und während der Landwirth zu seinen Beamten sprach, rüstete sich der Doctor, mit den Knaben und dem Lehrer in das Thal hinabzusteigen und dort die Ueberschwemmung des Baches zu betrachten.
Der Professor aber und Ilse blieben im Obstgarten, und der Professor erstaunte über die Menge der braunen Hausträgerinnen, der Schnecken, welche jetzt überall hervorkamen und langsam über den Weg zogen; er nahm eine nach der andern und setzte sie vorsichtig aus dem Wege, aber die Unverständigen kehrten immer wieder auf den festen Kies zurück und erhoben den Anspruch, daß die Fußgänger ihnen auswichen. Dann sahen die beiden nach, wie die Fruchtbäume das Unwetter ertragen hatten. Sie waren arg zerzaust, beugten ihre Zweige tief herab, und viel unreifes Obst lag abgeschlagen im Grase. Der Professor schüttelte vorsichtig an den regenschweren Aesten, um sie von der fremden Bürde zu befreien, er holte einige Stangen und unterstützte einen alten Apfelbaum, der unter seiner Last zu erliegen drohte, und beide lachten herzlich, als ihm bei der Arbeit das Wasser aus den Blättern, wie aus kleinen Rinnen, auf Haar und Rock hinablief.
Ilse schlug bedauernd die Hände zusammen über die vielen gefallenen Früchte, es hing aber doch noch viel an den Bäumen, und es war immer noch eine reiche Ernte zu hoffen. Der Professor gab ihr teilnehmend den Rath, das gefallene Obst zu backen, und Ilse lachte wieder darüber, weil das meiste noch zu unreif sei. Da gestand ihr der Professor, daß auch er als Knabe geholfen habe, wenn seine liebe Mutter das Obst auf dem Trockenbret ordnete. Denn seine Eltern hatten auch einen großen Garten an der Stadt gehabt, in welcher sein Vater Beamter gewesen. Und Ilse hörte mit leidenschaftlichem Antheil zu, als er weiter erzählte, daß er als Knabe den Vater verloren und wie lieb und gescheidt seine Mutter um ihn gesorgt, und wie innig sein Verhältniß zu ihr gewesen, und daß ihr Verlust der größte Schmerz seines Lebens sei. Dabei schritten sie den langen Kiesweg auf und ab, und in beiden klang durch die heitere Stimmung der Gegenwart ein Ton des Leides aus vergangenen Tagen, gerade wie in der Natur die Bewegung des heftigen Unwetters leise nachzitterte und das reine Licht des Tages von unzähligen blitzenden Edelsteinen auf Laub und Halm erglänzte.
Ilse öffnete eine Pforte, welche aus dem untern Theil des Obstgartens ins Freie führte, sie stand still und begann mit zögernder Bitte: »Ich habe einen Gang vor in das Dorf, um zu sehen, wie der Herr Pfarrer das Wetter überstanden hat. Wird Ihnen recht sein, unsern guten Freund kennen zu lernen?«
»Wenn er Ihnen lieb ist, so bin ich dankbar, daß Sie mich zu ihm führen,« antwortete der Professor.
Auf feuchtem Fußpfade schritten sie in die gewundene Verlängerung des Thals, welche sich an der Seite des Friedhofs hinzog. Dort lag mit zusammengedrängten Häusern ein kleines Dorf, meist von Arbeitern des Gutes bewohnt. Das erste Gebäude unter der Kirche war das Pfarrhaus, mit Holzdach und kleinen Fenstern, wenig von den Wohnungen der Landleute verschieden. Ilse öffnete die Thür, eine alte Magd eilte mit vertraulichem Gruß entgegen. »Ach, Fräulein,« rief sie, »das war heut schlimm, ich dachte, der jüngste Tag wäre vor der Thür. Der Herr hat immer an dem Kammerfenster gestanden und nach dem Schloß hinaufgesehen und für Sie die Hände in die Höhe gehoben. – Jetzt ist er im Garten.« – Durch die Hinterthür traten die Gäste in einen kleinen Raum zwischen Giebeln und Scheuern der Nachbarhöfe, wenige niedrige Fruchtbäume ragten über die Blumenbeete. Der alte Herr in dunklem Hausrock stand vor einem Spalier und arbeitete emsig. »Mein liebes Kind,« rief er aufsehend, und sein gutherziges Angesicht lachte vor Freude unter dem weißen Haar, »ich wußte, daß Sie heut kommen würden.« Er verneigte sich vor dem fremden Gast und wandte sich nach den Begrüßungsworten wieder zu Ilse. »Denken Sie das Unglück, der Sturm hat unsern Pfirsichbaum geknickt, das Geländer ist abgerissen, die Zweige zerschlagen, der Schaden ist unersetzlich.« Er beugte sich zu seinem kranken Baume herab, dem er gerade mit Baumwachs und Bast einen Verband aufgelegt hatte. »Es ist der einzige Pfirsich hier,« klagte er dem Professor, »auf dem ganzen Gute haben sie keinen, und in der Stadt vollends nicht. Aber ich darf Sie nicht mit meinen kleinen Leiden belästigen,« fuhr er muthiger fort, »bitte, kommen Sie mit mir in die Stube.« Ilse trat in eine Seitenthür neben dem Hause. »Was macht Flavia?« frug sie die Magd, welche den Besuch erwartend an der Pforte stand.
»Munter,« antwortete Susanne, »und der Kleine auch.«
»Es ist die gelbe Kuh und ein junges Ochsenkalb,« erklärte der Pastor dem Professor, während Ilse mit der Magd in den engen Hofraum trat. »Ich sehe nicht gern, wenn die Leute dem Vieh christliche Namen geben, da muß unser Latein aushelfen.«
Ilse kehrte zurück. »Es ist Zeit, daß das Kalb fortkommt, es ist ein unnützer Brotesser.«
»Das hab’ ich auch gesagt,« schaltete Susanne ein, »aber der Herr Pfarrer will sich nicht dazu entschließen.«
»Sie haben Recht, mein liebes Kind,« erwiederte der Pfarrer, »nach menschlicher Weisheit wäre es rathsam, das Oechslein dem Schlächter zu überliefern. Aber das Oechslein sieht die Sache ganz anders an, und es ist eine muntere Creatur.«
»Wenn man’s aber darum fragt, erhält man keine Antwort,« sagte Ilse, »und deswegen muß sich’s gefallen lassen, was wir wollen. Erlauben Sie, Herr Pfarrer, daß ich das mit Susanne hinter Ihrem Rücken abmache. Unterdeß holst du die Milch von oben.«
Der Pfarrer führte in seine Stube. Es war ein kleiner Raum, weiß getüncht, spärlich möblirt, darin ein alter Schreibtisch, ein schwarzbestrichenes Bücherbret mit einer kleinen Anzahl ältlicher Bücher, Sopha und Stühle mit buntem Kattun überzogen. »Hier ist seit vierzig Jahren mein Tusculum,« sagte der Pastor vergnügt zum Professor, der verwundert auf den dürftigen Hausrath blickte. »Es würde größer sein, wenn der Anbau zu Stande gekommen wäre, es waren auch schon Pläne gemacht, und mein Herr Nachbar hat sich sehr darum bemüht, aber seit meine selige Frau dort hinaufgezogen ist« – er sah nach der Höhe des Friedhofs – »will ich nichts mehr davon hören.«
Der Professor sah zum Fenster hinaus. Vierzig Jahre in dem engen Bau, dem schmalen Thal, zwischen dem Friedhof, den Hütten, dem Wald! Ihm wurde gedrückt zu Muth. »Es scheint, die Gemeinde ist arm,« sagte er, »zwischen den Bergen liegt nur wenig Feld. Und wie ist’s im Winter?«
»Ei, die Füße tragen noch,« erwiederte der geistliche Herr, »man besucht dann auch gute Freunde; nur der Schnee wird zuweilen lästig, einmal waren wir ganz eingeschneit und Herr Bauer hat uns herausschaufeln müssen.« Er lächelte behaglich bei der Erinnerung. »Es ist nicht einsam, wenn man lange Jahre an einem Orte gelebt hat, man hat die Großväter gekannt, die Väter aufgezogen, man lehrt die Kinder und hier und da schon die Enkel, man sieht, wie die Menschen sich von der Erde erheben und wieder hinabsinken, gleich den Blättern der Bäume. Und man merkt, daß Alles eitel ist und eine kurze Vorbereitung. Liebes Kind,« sagte er zu Ilse, welche jetzt eintrat, »setzen Sie sich zu uns, ich habe Ihr liebes Gesicht seit drei Tagen nicht gesehen, und wollte nicht hinaufkommen, weil ich hörte, daß Besuch bei Ihnen ist. Ich habe auch etwas für Sie,« setzte er hinzu und holte einen beschriebenen Bogen vom Pult, »es ist Poesie dabei.«
»Denn auch der Musengesang fehlt uns nicht,« fuhr er gegen den Professor fort. »Freilich ist er demüthig und von der bukolischen Art. Aber glauben Sie mir, für Einen, der sein Dorf kennt, gibt es wenig Neues unter der Sonne. Es ist im Kleinen hier Alles, wie in der übrigen Welt im Großen, der Schmied ist ein heftiger Politikus und der Schultheiß möchte gern ein Dionysius von Syrakus sein. Auch den reichen Mann der Schrift haben wir, freilich auch mehre Lazarusse, zu welchen dieser Dichter gehört; und unser Tüncher ist im Winter ein Musikus, er spielt gar nicht schlecht auf der Zither. Das alles arbeitet durcheinander und möchte gern oben hinaus, und es macht zuweilen Mühe, die gute Nachbarschaft unter ihnen zu erhalten.«
»Er