Die verlorene Handschrift. Gustav Freytag
Sie tragen ja wohl Federbüschel und ihre Kleidung ist mangelhaft, und die Beinkleider, wenn man das erwähnen darf, hängen herunter, wie bei manchen Tauben, welche auch lange Federn an den Beinen haben. Man sieht sie zuweilen abgebildet; in dem Bilderbuch meines Karl vom letzten Weihnachten sind diese wilden Männer deutlich zu sehen. Sie haben barbarische Sitten, liebe Ilse.«
»Warum ist aber Karl nicht mitgekommen?« frug Ilse, um die Herren von der Unterhaltung zu lösen.
»Es war nur wegen der Rückfahrt im Finstern. Denn der Wagen ist zweisitzig, und neben Rollmaus kann kein Drittes eingeschachtelt werden. Da muß Karl beim Kutscher sitzen, und das arme Kind wird Abends immer so schläfrig, daß ich Sorge habe, es fällt herunter.«
Als die Oberamtmann die Aussicht eröffnete, bei finsterer Nacht heimzufahren, sah der Doctor den Freund mitleidig an, aber der Professor hörte so aufmerksam nach der Unterhaltung, daß er das Bedauern gar nicht bemerkte. Ilse frug weiter und die Frau Oberamtmann stand ihr allerdings Rede, sah aber zuweilen begehrlich nach dem Doctor, dessen Verhältniß zu den Indianern in Karls Bilderbuch ihr lehrreich erschien. Unterdeß waren die Landwirthe sogleich in ein Gespräch über die Eigenschaften eines Rosses gesunken, das irgendwo in der Nähe zu gemeinnütziger Thätigkeit aufgestellt war, so daß der Doctor sich zuletzt an die Kinder wandte und mit Clara und Luise plauderte.
Nachdem eine halbe Stunde ruhiger Vorbereitung vergangen war, erschien das Dienstmädchen an der Thür des Speisezimmers. Der Landwirth lud ein, zu Tische zu gehen, und bot ritterlich der Frau Oberamtmann seinen Arm über die Sophalehne. Die Dame knixte und fuhr neben ihm durch die Thür, der Professor führte Ilse, der Doctor aber Schwester Clara, welche erröthete und sich sträubte, bis er Luise und Riekchen an seinen andern Arm hing, worauf auch noch Franz seinen Rockzipfel faßte und ihm auf dem Wege hinter seinem Rücken zuraunte: »Heut gibt’s einen Truthahn.« Der Oberamtmann aber, welcher das Führen der Damen als eine lästige Erfindung betrachtete, machte einsam den Schluß und begrüßte im Saale die aufgestellten Herren von der Wirthschaft mit den Worten: »Ist das Korn herein?« – »Versteht sich,« grüßte der Inspector dagegen. Wieder nahm Alles nach Rang und Würden Platz, auf dem Ehrensitz die Frau Oberamtmann, zwischen ihr und Ilse der Professor.
Es war für diesen kein ruhiger Mittag, zwar Ilse war stiller als gewöhnlich, aber seine neue Nachbarin stellte ihm wissenschaftliche Aufgaben. Sie zwang ihn, von der Einrichtung seiner Universität zu erzählen, und in welcher Weise die Studenten belehrt würden. Der Professor that das ausführlich und mit guter Laune. Es gelang ihm aber nur kurze Zeit, sich und Andern die peinliche Empfindung fern zu halten, welche die Reden der Frau Oberamtmann wohl verursachten. »Also philosophisch sind Sie?« sagte die Rollmaus. »Das ist ja sehr interessant. Ich habe es auch mit der Philosophie versucht, aber der Stil ist zu unverständlich. Was enthält denn eigentlich die Philosophie?«
»Sie gibt sich Mühe, die Menschen über das Leben ihres eigenen Geistes zu belehren und dadurch fester und vielleicht besser zu machen,« beantwortete der Professor geduldig die mißliche Frage.
»Das Leben des Geistes,« rief die Oberamtmann aufgeregt, »aber glauben Sie denn auch, daß die Geister nach dem Tode der Menschen erscheinen können?«
»Haben Sie Beispiele davon?« frug der Professor. »Es würde gewiß Allen willkommen sein, darüber zu hören. Ist dergleichen hier in der Gegend vorgekommen?«
»Weniger mit Geistern,« erwiederte Frau Oberamtmann, mißtrauisch nach dem Hausherrn blickend, »aber mit Ahnungsvermögen und was man Sympathie nennt. Denken Sie einmal, in unserm Hause diente ein Mädchen, sie hätte es nicht nöthig gehabt, aber die Eltern wollten sie auf einige Zeit von sich thun. Denn im Dorfe war ein armer Bursch, der aber ein großer Geiger war, der strich Morgens und Abends mit der Violine um ihr Haus, und wenn das Mädchen hinauskommen konnte, saßen sie miteinander hinter einem Busch, er spielte auf der Geige und sie hörte zu. Deswegen konnte sie nicht von ihm lassen. Sie war ein sauberes Mädchen und schickte sich im Hause zu Allem, nur daß sie immer traurig war. Und der Geiger wurde zu den Husaren genommen, wozu er auch paßte, weil er sehr entschlossen und unterminirt war. Nach einem Jahre kommt die Köchin zu mir und sagt: ›Frau Oberamtmann, ich halte es nicht länger aus, die Jette treibt Nachtwandel. Sie steigt aus dem Bette und singt das Lied von einem Soldaten, den der Hauptmann erschießen läßt, weil es nicht anders sein konnte, und stöhnt dazu, daß es einen Stein erbarmen möchte, und am Morgen weiß sie nichts von ihrem Singen, aber sie weint immer still fort.‹ Das war die Wahrheit. Ich rufe sie und frage sie ernsthaft: ›Was hast du? Ich kann das mysterielle Wesen nicht ausstehen, du bist mir eine Charade.‹ Darauf jammerte sie sehr und meinte, ich solle sie doch nicht für so etwas halten, sie sei ein ehrliches Mädchen, aber sie hätte eine Erscheinung gehabt. Und nun kam Alles heraus. Der Gottlob war in der Nacht an ihrer Kammerthür erschienen, ganz hager und traurig, und hatte gesagt: ›Jette, es ist vorbei mit mir, morgen muß ich dran glauben.‹ Ich suchte ihr das Zeug auszureden, aber ihre Angst steckte mich an, ich schrieb an einen Offizier, den Rollmaus von der Hasenjagd kannte, und fragte, ob das eine Dummheit wäre oder von dem sogenannten Ahnungsvermögen herkäme. Da schrieb er mir ganz erstaunt zurück, es wäre richtig Ahnungsvermögen, an demselben Tage war der Geiger vom Pferde gestürzt, hatte ein Bein gebrochen und lag in dem Lazareth zum Tode. Jetzt bitte ich Sie, ob das nicht eine Naturerscheinung war.«
»Was wurde aus den armen Leuten?« frug der Professor.
»Ach die!« erwiederte die Frau Oberamtmann, »es ließ sich helfen. Denn ein Kamerad von dem Gebrochenen war aus unserm Dorf, welcher eine kranke Mutter hatte; dem schrieb ich die Forderung, daß er jeden dritten Tag einen Brief an mich schickte, wie es dem Kranken ging, und es konnte mit Speck und Mehl gutgemacht werden. Da schrieb er, und die Sache dauerte viele Wochen. Endlich aber wurde der Geiger geheilt und kam am Stock zurück. Beide waren so blaß wie dieses Tuch, als sie zusammentrafen, und fielen einander vor meinen Augen ohne Rücksicht um den Hals, worauf ich mit den Eltern des Mädchens ein Wort sprach, welches wenig nutzte. Dann aber mit Rollmaus, dem unsere Dorfschenke gehört, und der gerade einen guten Pächter suchte. Das brachte die Geschichte zum Ende, oder wie man zu sagen pflegt, zum commencement du pain. Denn Rollmaus war zwar mit der Geige nicht zufrieden, weil er meinte, diese sei ein Anzeichen von leichtem Geblüt, aber die Leutchen halten sich ordentlich. Dann zuerst war ich Pathe, dann Rollmaus. Es sind aber keine Erscheinungen mehr vorgekommen.«
»Das war von Ihnen brav und liebevoll gehandelt,« rief der Professor kräftig.
»Man ist ja bei alledem auch Mensch,« entschuldigte sich die Frau Oberamtmann.
»Und ich hoffe, ein guter Mensch,« versetzte der Professor. »Glauben Sie mir, verehrte Frau, in der Philosophie und anderer Gelehrsamkeit gibt es verschiedene Ansichten. Man streitet sich über Vieles, und leicht hält Einer den Andern für unwissend. Aber was Redlichkeit heißt und Menschenfreundlichkeit, darüber sind die Ansichten selten verschieden gewesen, und wo man diese Eigenschaften findet, hat Jedermann Freude und Hochachtung, und diese habe ich jetzt vor Ihnen, Frau Oberamtmann.«
Das sagte er herzlich der gelehrten Frau. An seiner andern Seite hörte er ein leises Rauschen des Gewandes, und als er sich zu Ilse wandte, begegnete er einem Blick so voll von demüthiger Dankbarkeit, daß er mit Mühe seine Haltung bewahrte.
Die Frau Oberamtmann aber saß lächelnd und zufrieden mit dem philosophischen System ihres Nachbars. Wieder kehrte sich der Professor zu ihr und sprach mit ihr davon, daß es gar nicht leicht sei, Hilflosen auf die rechte Art wohlzuthun. Die Frau Oberamtmann gab zu, daß die Leute ohne Bildung ihre eigene Art hätten, aber »man kann leicht mit ihnen fertig werden, wenn sie nur erkennen, daß man’s gut meint.« Und der Professor veranlaßte allerdings noch ein kleines Mißverständniß, als er der Oberamtmann achtungsvoll in seiner Sprache bemerkte: »Ganz recht, zuletzt ist auch auf diesem Gebiet geduldige Liebe die Voraussetzung einer fruchtbaren Thätigkeit.«
»Ja,« bestätigte die Rollmaus verlegen, »allerdings; diese gewisse Thätigkeit, welche Sie erwähnen, fehlt bei uns gar nicht, und sie heiraten meist gerade noch zur rechten Zeit, aber die geduldige Liebe, welche Sie sehr richtig Voraussetzung nennen, ist bei unsern Landleuten nicht immer vorhanden, denn sie sorgen bei einer Heirat oft mehr um Geld als um Liebe.«
Wenn aber auch einzelne Noten in dem Concert am obern Tisch nicht recht zueinander