Die verlorene Handschrift. Gustav Freytag
Ritterlich weilte der Professor neben ihr. Er machte sie aufmerksam, wie gut sich der Zug ausnehme, die Fackeln wie große Glühwürmer an der Spitze, dahinter die scharf beleuchteten Gestalten, der wechselnde Feuerschein an Baumstämmen und grünen Zweigen. Ilse hörte längere Zeit schweigend zu, endlich begann sie: »Und das Liebste am heutigen Tage war, daß Sie so gütig zu unserer Nachbarin sprachen. Als sie neben Ihnen saß, war mir weh zu Muth. Denn mir kam vor, als wäre demüthigend für Sie, die ungeschickten Fragen unserer Freundin zu hören, und auf einmal war mir, als ob Sie auch gegen uns eine immerwährende Nachsicht üben müßten, und das quälte mich. Weil Sie aber so freundlich das Gute anerkannten, das unsere Frau Oberamtmann hat, merkte ich doch, daß es Ihnen keine Ueberwindung kostet, mit uns einfachen Leuten zu verkehren.«
»Liebes Fräulein,« rief der Professor erschrocken, »ich hoffe, Sie sind überzeugt, daß ich der wackern Dame nur sagte, was wahre Herzensmeinung war.«
»Ich weiß es,« fuhr Ilse lebhaft fort, »und die treue Seele vor uns fühlt es auch. Sie war heut den ganzen Tag ruhiger und heiterer als sie sonst ist. Und dafür muß ich Ihnen danken. Ach, von Herzen,« fügte sie leise hinzu.
Da Lob aus geliebtem Munde nicht die kleinste Freude des Menschen ist, sah der Professor glücklich auf seine Nachbarin, welche jetzt im Dunkeln den Bruder zu schnellerem Schritte trieb. Er wagte das Schweigen nicht zu brechen, beiden waren die reinen Herzen geöffnet, und ohne ein Wort zu reden, fühlten sie den Strom warmer Empfindungen, der von einem zum andern zog. »Wer aus seinen Büchern unter andere Menschen tritt,« begann endlich der Professor, »dem macht die pedantische Gewohnheit des Bücherlesens zuweilen leichter, aus einem fremden Leben heraus zu holen, was ihm für das eigene dienlich sein kann. Denn zuletzt ist in jedem Leben etwas Ehrwürdiges, wie oft es auch durch wunderliche Zuthat verdeckt ist.«
»Uns ist geboten, den Nächsten zu lieben,« sagte Ilse, »und wir mühen uns, das zu thun; aber wenn man findet, daß diese Liebe so heiter, so hoch und sicher gegeben wird, ist es doch rührend. Und wo man solche Gesinnung vor sich sieht, wird sie ein Beispiel und erhebt das Herz. – Komm, Franz,« sagte sie zum Bruder gewandt, »es ist nicht mehr weit nach Haus.« Aber Franz stolperte und erklärte schlaftrunken, daß ihn seine Beine schmerzten. »Auf, kleiner Herr,« rief der Professor, »laß dich tragen.«
Aengstlich wehrte Ilse: »Das kann ich nicht zugeben, es ist nur der Schlaf, der ihn träge macht.«
»Bis wir im Thale sind,« sagte der Professor und hob den Knaben an seine Schulter. Franz schlug ihm den Arm um den Hals, drückte sich an ihn und war bald fest entschlafen. Sie kamen an eine steile Biegung des Weges, der Professor bot seiner Gefährtin den freien Arm, sie aber weigerte sich und stützte sich nur ein wenig auf die dargebotene Hand. Und ihre Hand glitt hinab und blieb in der des Mannes liegen. Hand in Hand schritten beide den letzten Theil des Berges abwärts in das Thal, keines sprach ein Wort. Unten löste Ilse leise ihre Hand aus der seinen, er ließ sie los ohne Wort und Druck, aber die wenigen Minuten umfaßten für beide eine Welt von seligen Gefühlen. »Komm herab, Franz,« bat Ilse, und nahm den schlafenden Bruder vom Arm ihres Freundes. Sie beugte sich zu dem Kleinen nieder und sprach ihm Muth ein, und weiter ging es zu der Gesellschaft, welche am Bach die Zurückgebliebenen erwartete.
Der Wagen des Oberamtmanns fuhr vor. Wortreich waren die Abschiedsgrüße der Frau Oberamtmann; auch der Starrsinn des Gatten war durch die Vorstellungen seiner Frau gemildert, und als er die Mütze in der Hand hielt, bequemte er sich mit erträglichem Anstande zum Biß in den erwähnten sauren Apfel. Er trat auf die Schreiberleute aus der Stadt zu und ersuchte sie, auch ihm das Vergnügen ihres Besuches zu schenken, und als er die freundlichen Worte sprach, übte die Einladung selbst auf sein ehrliches Gemüth eine weitere besänftigende Wirkung, er streckte auch noch die Hand aus, und als diese ihm kräftig geschüttelt wurde, näherte er sich der Ansicht, daß die Fremden im Grunde auch nicht so übel wären. Der Gutsherr begleitete die Gäste zu dem Wagen, Hans reichte die Schachtel hinein, und beide Landwirthe beobachteten unter dem letzten Gutnachtruf noch mit Kennerblicken, wie die Braunen anzogen.
7.
Neue Feindseligkeit
Während zwischen dem Professor und dem Doctor eine helle Frauengestalt aufstieg, wollte das Schicksal, daß zwischen denbeiden Nachbarhäusern eine neue Fehde entbrannte. Und das ging so zu.
Herr Hahn hatte die Abwesenheit seines Sohnes zu einer Verschönerung des Grundstücks benutzt. Sein Garten lief nach dem Parke spitz zu, und er hatte viel darüber nachgedacht, wie diese Spitze zu einer guten Wirkung verwerthet werden könnte. Denn die kleine Erhöhung, die er dort aufgeworfen und mit Rosen besetzt hatte, erwies sich als ungenügend. Er beschloß also, ein hübsches wasserdichtes Sommerhaus für solche Besucher des Gartens zu zimmern, welche nicht geneigt waren, bei schlechtem Wetter nach der nahen Wohnstube zurückzugehen. Alles war schon vor der Abreise des Sohnes weislich überlegt, den Tag darauf ließ er einen schlanken Holzbau errichten, mit kleinen Fenstern nach der Straße, oben statt des Daches eine Plattform mit lustigen Bänken, deren Latten über die Holzwände und den Gartenzaun kühn in die Luft der Straße vorsprangen. Die Sache sah gut aus. Als aber Herr Hahn herzlich vergnügt seine Gattin eine kleine Seitentreppe auf die Plattform hinaufführte und die wohlgerundete Frau Hahn, nichts Arges ahnend, auf der Luftbank niedersaß und von dort oben verwundert auf die Welt herunterblickte, da ergab sich, daß die Spaziergänger gerade unter ihr wegschritten, und wer längs dem Zaun ging, sah den Himmel über sich verdunkelt durch das Gefieder des großen Vogels, der auf seinem hohen Sitz der Straßenwelt den Rücken kehrte. Da klangen schon in der ersten Viertelstunde so spitze Reden herauf, daß die arglose Frau Hahn dem Weinen nahe war und ihrem Hausherrn mit ungewohnter Energie erklärte, sie werde sich nie wieder als Henne behandeln lassen und die Plattform nicht wieder besteigen. Die Familienstimmung wurde dadurch nicht besser, daß Herr Hummel während dieser Ausstellung der Frau Hahn am Zaune des Nachbargartens gestanden und über die nichtswürdigen Redensarten des Volkes recht höhnisch gelacht hatte.
Hahn aber, nach kurzem Kampfe zwischen Stolz und Rücksicht, gab der besseren Stimme seines Innern Gehör, entfernte die Bänke und die Plattform und errichtete über dem Sommerhause ein schönes chinesisches Dach. An die Vorsprünge des Daches aber hing er kleine Glocken. Wenn sich der Wind erhob, tönten die Glocken leise. Dieser Einfall wäre eine entschiedene Verbesserung gewesen. Aber die Schlechtigkeit der Menschen gönnte dem Kunstwerk keine Ruhe. Denn die Straßenjungen machten sich ein Vergnügen daraus, einzelne Glocken durch lange Gerten in Bewegung zu erhalten. Und in einer der nächsten Nächte wurde die Nachbarschaft sogar durch ein vielstimmiges Glockenconcert aus dem Schlummer geweckt.
Herrn Hahn däuchte im Schlafe, daß der Winter gekommen sei und eine lustige Gesellschaft Schlitten fahrend sein Haus umkreise; er horchte auf und erkannte mit Entrüstung die aufgeregte Thätigkeit seiner Glocken. Im Nachtkleide eilte er in den Garten und rief zornig in die Luft hinaus: »Wer ist hier?« Augenblicklich verstummte das Geläut, ringsum tiefes Schweigen, friedliche Stille. Er stieg zum Gartenhaus hinauf und sah die unsichern Umrisse seiner Glocken, welche noch unter dem Nachthimmel schwangen, aber rundumher war Niemand zu entdecken. Er ging nach seinem Bett zurück, aber kaum hatte er sich zurechtgelegt, so fing der Lärm wieder an, hastig und rufend, als sollte eine Weihnachtsbescherung eingeläutet werden. Und es wurde auch eine eingeläutet, aber keine fröhliche. Wieder stürmte er ins Freie und wieder schwieg der Lärm, aber als er sich über das Gitter erhob und umherspähte, sah er im Garten gegenüber die breite Gestalt des Herrn Hummel am Zaun stehen und hörte eine dröhnende Stimme rufen: »Was sind das für verrückte Phantastereien?«
»Es ist unerklärlich, Herr Hummel,« rief Herr Hahn begütigend über die Straße hinüber.
»Unerklärlich ist nichts,« rief Herr Hummel, »als der Unfug, Glocken auf offner Straße in die freie Luft zu hängen.«
»Ich verbitte mir Ihre Ausfälle,« rief Herr Hahn tief verletzt, »ich habe das Recht, auf meinem Grundstück aufzuhängen, was ich will.«
Und nun begann ein Kampf der Ansichten über die Straße, schrecklich und kläglich zugleich. Dort Hummels Baß, hier Hahns scharfe Stimme, welche in hohe Tenorlagen hinüberhüpfte; beide Nachtgestalten in langen Schlafröcken, getrennt durch Straße und Verschanzungen, aber wie zwei antike Helden mit starken Worten gegeneinander fechtend. Wenn