Die verlorene Handschrift. Gustav Freytag
sein Freund durch dies ruhige Leben angezogen wurde, und wie fügsam er sich in die Bewohner des Hauses schickte. Der Gutsherr brachte ihm, bevor er auf das Vorwerk ritt, einige landwirthschaftliche Bücher und sprach zu ihm über Getreidesorten, der Professor antwortete so bescheiden wie ein junger Herr in Stulpstiefeln und vertiefte sich sogleich ernsthaft in diese fremden Interessen. Auch zwischen Ilse und dem Professor offenbarte sich ein Einvernehmen, über dessen Ursache der Doctor unruhig nachsann. Wenn der Professor zu ihr sprach, geschah es mit inniger Verehrung in Stimme und Blick, und auch Ilse wandte sich am liebsten zu ihm und war in der Stille unablässig um sein Behagen bemüht. Als er ihr bei Tische ein Tuch aufhob, überreichte er es mit ehrfurchtsvoller Verbeugung, wie einer Fürstin; als sie ihm seine Tasse in die Hand gab, sah er so glücklich aus, als hätte er den geheimen Sinn einer schwierigen Schriftstelle gefunden. Dann am Abend, als er mit dem Vater im Garten saß und Ilse hinter seinem Rücken aus dem Hause trat, verklärte sich sein Angesicht, und er hatte sie doch gar nicht gesehen. Und da sie den Kindern das Abendbrot austheilte und den kleinen Franz wieder schelten mußte, weil er unartig war, sah der Professor plötzlich so finster drein, als ob er selbst ein Knabe wäre, den der Unwille der Schwester bessern sollte. Diese Beobachtungen gaben dem Doctor zu denken.
Weiter, als kurz darauf der wackere Hans dem Doctor den Vorschlag machte, bei einem freundschaftlichen Blindekuhspiel mitzuwirken, da nahm Fritz als selbstverständlich an, daß der Professor unterdeß den Vater in der Laube unterhalten werde. Er selbst hätte sich’s kaum getraut, seinen gelehrten Freund zu dieser Ausschweifung aufzufordern. Wie erstaunte er aber, als Ilse das Tuch zusammenlegte, zu dem Professor trat und ihn aufforderte, sich zuerst als Blindekuh umbinden zu lassen. Und der Professor sah auf dieses Ansinnen ganz glücklich aus, bot Haupt und Hals sanft wie ein Opferlamm der Verhüllung und ließ sich von Ilse in den Kreis der kleinen Wilden führen. Lärmend umringte der Schwarm den Professor, die dreisten Kinder zupften ihn am Rockschoß, sogar Ilse wußte einen Knopf seines Rockes zu fassen und zog leise daran, er aber gerieth über dieses Zucken in Aufregung, fuhr mit den Händen umher und achtete keinen Angriff der schwärmenden Jugend, nur um die Frevlerin zu ergreifen. Als ihm dies nicht gelang, schlug er mit dem Stocke auf und ging wie der blinde Sänger Demodokus tastend umher, um einen Phäaken mit der Stockspitze zu fassen. Jetzt traf er richtig auf Ilse, sie aber hielt das Stockende ihrer Schwester hin, und Clara pfiff daran, der Professor aber rief: »Fräulein Ilse!« Und Ilse freute sich herzlich, daß er falsch gerathen, und der Professor sah darüber sehr betreten aus.
Aber dabei blieb es nicht. Dies Landgeschlecht muthete dem Professor ferner zu, den Dritten abzuschlagen, als schwarzer Mann zu kommen und ähnliche anstrengende Uebungen, bei denen ein Umherhuschen, Umwenden, Laufen und ein Hüpfen über die Grenze unvermeidlich war. Alles dies machte der Professor recht lüderlich mit. Ja, er bewies darin eine Kunstfertigkeit, welche die Kinder bezauberte. Er sprang wie ein Knabe über die Buchsbaumbeete, unternahm das Kunststück, mit jeder Hand eines zu fangen, schlug mit dem zusammengedrehten Taschentuch kräftigst auf die Rückseite der Knaben und traf Ilsens Hände mit einem so achtungsvollen Schlag, daß Bruder Franz erzürnt ausrief: »Das gilt nicht, das war zu wenig.« Ilse aber bekannte sich getroffen, nahm das Tuch und schenkte es jetzt dem Professor gar nicht, sondern schlug ihn damit herzhaft auf die Schultern, und als er sich erstaunt umdrehte, lächelte sie ihm ein wenig zu und übergab ihm das Tuch wieder.
Es war unleugbar, die laute Fröhlichkeit der wohlgebildeten Kinder war ansteckend, auch der Doctor wurde bald von einer derben ländlichen Lustigkeit erfaßt. Auch er sprang und klatschte in die Hände und boxte während des gemeinsamen Spiels noch zum Privatvergnügen mit Hans dem ältesten, so oft sie nebeneinander zu stehen kamen. Während er selbst lachte und auf einem Beine herumsprang, freute er sich als beobachtender Weiser über die großen und kleinen Mädchen, wie gut ihnen die kräftigen Bewegungen des wilden Spiels standen. Denn es war unverkünstelte Natur und volle Hingabe an das Spiel. Wenn Clara, die zweite, dem Bruder entlief oder im Kreise umherfuhr, so war sie bis auf ihr bescheidenes Röckchen einer spartanischen Wettläuferin wohl zu vergleichen. Als Ilse darauf am Baum stand und mit der Hand einen Ast über sich faßte, um sich zu stützen, so sah ihr geröthetes Antlitz, von den Blättern des Nußbaums bekränzt, so schön und glücklich in die Welt, daß auch der Doctor ganz davon hingerissen wurde.
Bei solcher Bacchantenstimmung war es nicht zu verwundern, daß der Professor zuletzt Hansen zum Wettlauf herausforderte: zweimal im Viereck, längs dem Zaune. Unter dem Jubel der Kinder verlor Hans seine Wette, wie er selbst behauptete, weil er die innere Seite des Vierecks gehabt hatte, aber die allgemeine Stimme verwarf durchaus diese Entschuldigung. Als die Wettläufer wieder bei der Laube ankamen, reichte Ilse dem Professor seinen Ueberziehrock, den sie unterdeß vom Kleiderrechen des Hausflurs geholt hatte: »Es wird spät, Sie dürfen sich bei uns nicht erkälten.« Und es war gar nicht kalt, er aber zog den Rock auf der Stelle an, knöpfte ihn von oben bis unten zu und schüttelte seinen Mitstreiter Hans vergnügt an den Schultern. Darauf setzten sich alle in der Laube nieder, um abzukühlen. Hier mußte auf die stürmische Forderung der Kleinen unter allgemeinem Chorgesange ein Thaler wandern, und von dem strengen Theil der Familie wurde laut gerügt, daß der Thaler zweimal zwischen Ilse und dem Professor auf die Erde fiel, weil sie einander den geheimen Läufer nicht fest genug in die Hand gegeben hatten. Durch dies Spiel war die Gesangeslust der Jugend erweckt worden, Klein und Groß sang zusammen aus voller Kehle solche Lieder, welche sich als gemeinsames Gut erwiesen: »An der Saale kühlem Strande,« das Mantellied und »die Glocke von Capernaum,« dieses als Canon. Darauf sangen Ilse und Clara, von dem Doctor ersucht, zweistimmig ein Volkslied, sehr einfach und schmucklos, und vielleicht traf eben deshalb die melancholische Weise das Herz, so daß es nach dem Lied still wurde und die fremden Herren gewissermaßen gerührt vor sich hinsahen, bis der Landwirth die Gäste aufforderte, auch etwas zum Besten zu geben. Sogleich stimmte der Professor, aus seiner Bewegung auftauchend, mit wohltönendem Basse an: »Im kühlen Keller sitz’ ich hier,« daß die Knaben begeistert die Reste aller Milch austranken und mit den Gläsern auf den Tisch stampften. Wieder äußerte sich die Gesellschaft als Chor, sie unternahmen das liebe alte Fragezeichenlied: »des Deutschen Vaterland,« soweit die Kenntniß der Verse reichte, und zum Schluß versuchte sich Alles zusammen an Lützows verwegener Jagd. Der Doctor hielt als fester Chorsänger die Melodie bei den schwierigen Noten schön zusammen und der Refrain klang wundervoll in der stillen Abendluft, die Töne zogen das Weinlaub der Mauer entlang und über die Gipfel der Obstbäume bis an das Gehölz des nächsten Hügels und kamen von dort als Echo zurück.
Nach diesem Hauptstück trieb Ilse die Kinder zum Aufbruch und geleitete die Unzufriedenen in das Haus, die Männer aber saßen noch lange im Gespräch zusammen, sie hatten miteinander gelacht und gesungen und ihre Herzen waren geöffnet. Der Landwirth erzählte aus seinen früheren Tagen, wie er sich da und dort versucht hatte und endlich hier festgesetzt. Der Kampf um das Leben war auch ihm schwer und langwierig gewesen, er erinnerte sich in dieser Stunde gern daran und sprach darüber in der guten Weise eines thätigen Mannes.
So verlief der zweite Tag auf dem Gute zwischen Sonne und Sternen, zwischen Garben und Herden.
Am nächsten Morgen weckte den Professor ein lauter Gesang der geflügelten Hofgenossen. Der Hahn flog auf einen Stein unter dem Fenster der Gaststube und ließ gebieterisch seinen Morgenruf erschallen, die Hennen und junges Hühnervolk standen im Kreise um ihn her und versuchten dieselbe Gesangskunst zu üben. Dazwischen schrieen die Sperlinge, welche im Weinlaub geschlafen hatten, aus vollem Halse, aber sie drangen nicht durch; dann flogen die Tauben heran und gurrten die Triller. Zuletzt kam noch eine Herde Enten zu dem Sängerbund und begann schnatternd den zweiten Chor. Der Professor sah sich genöthigt, das Lager zu räumen, und der Doctor rief unwillig im Bett: »Das kommt von dem gestrigen Singsang. Jetzt lärmt der Brotneid aller zünftigen Hofmusikanten.« Darin aber war er im Irrthum, das kleine Volk des Hofes sang nur aus Amtseifer, es meldete zuerst dem Gute, daß ein unruhiger Tag bevorstehe.
Als der Professor in das Freie trat, glühte noch die Morgenröthe mit feurigem Schein am Himmels, und der erste Lichtstrahl fuhr über die Felder, gebrochen und zitternd wie in Wellen. Der Grund war trocken, an Blatt und Rasen hing kein Thautropfen. Auch die Luft war schwül, und matt nickten die Blumenköpfe an den Stielen. Hatte in der Nacht eine zweite Sonne geschienen? Vom Gipfel eines alten Kirschbaumes aber klang unaufhörlich das helle Pfeifen der Golddrossel. Der alte Gartenarbeiter Jacob sah kopfschüttelnd