Der sechste Sinn. Palle Adam Vilhelm Rosenkrantz

Der sechste Sinn - Palle Adam Vilhelm Rosenkrantz


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Interesse der Neuheit verloren; man wird stumpf und erkennt seine Ohnmacht. Ich behandle allmählich alle Fälle geschäftsmäßig, wie einlaufende Briefe, die von der Polizei sortiert, vom Gericht eingetragen und von mir in meiner Geschäftszeit erledigt werden. Bisweilen vergesse ich ganz, daß meine Objekte auf zwei Beinen herumlaufen und auf kopenhagnerisch fluchen; ich leugne nicht, daß es mir konveniert, meine Objekte als Sachen zu betrachten.«

      »Wie gesagt, ich bin in einem Engros-Geschäft angestellt und da lernt man mechanisch arbeiten.«

      Der Kreisrichter nickte. »Ich verstehe Sie. Ich treibe ein Detailgeschäft; ich schäme mich nicht, einzugestehen, daß ich nicht weiter energisch daran arbeite, das Geschäft zu erweitern, und da ich nur kurz dabei gewesen bin, es ist nur wenige Monate her, daß ich mein ruhiges Dasein im Kultusministerium mit meiner – nun ja – ebenso ruhigen Stellung in Leire vertauschte, so glaube ich, daß Sie, der Sie, wie Sie selber sagen, Grossist im Fach sind, mir hier helfen können, wo es sich um einen, das Gewöhnliche etwas übersteigenden Betrag handelt und wo ich eingreifen muß

      Der Kreisrichter sah seinem Mitreisenden freundlich in die Augen. »Ich will ihnen nämlich eins sagen, Verehrtester, eine 20jährige Arbeit in einer königlich dänischen Kanzlei hat mich gelehrt, mich nie mit einer Arbeit anzustrengen, die ein anderer für mich ausführen kann.«

      »Aha,« sagte Thomas.

      Der andere fuhr fort: »Ihr Onkel hat selbstverständlich nach Ihnen geschickt, weil er meinem Können nicht traut. Machen Sie sich darüber keine Gedanken, lieber Assessor. Ich kann nicht verlangen, daß die Leute eine bessere Meinung von mir haben als ich selber. Ich räume den Platz – und das soll uns nicht entzweien.«

      »Ich bin stolz, aber nicht hochmütig,« sagte Thomas. Entweder ist der Mann recht anständig, oder er ist ein Idiot, dachte er. Kreisrichter Heiden konnte seinem Aussehen nach das eine wie das andere sein.

      Sie glitten an Vridslöselille vorüber. »Da liegt Brasen,« sagte der Kreisrichter mit wehmütigem Lächeln. »Der vierflügelige Stern erinnert mich immer an eine Kaffeemühle, wo viel dänische Jugend zu unnützem Sägemehl zermahlen wird. Traurig ist es und traurig bleibt es. Hier saust ein Zug nach dem andern vorbei und da sitzen sie drinnen und horchen. Die Tage gehen und die Nächte kommen, die Sonne scheint und der Wind heult. – Volk stirbt und Vieh stirbt, und die Mühle mahlt weiter Großes und Kleines, Taugliches und Untaugliches, das muß so sein und ist so und müßte doch anders sein, aber es ist hoffnungslos. Auf mich wirkt ein Gefängnis immer wie ein Kirchhof, wo Tote umgehen. Ich will Ihnen nämlich sagen, ich liebe die Menschen!«

      Thomas sah auf, ein leichtes Staunen, eine höfliche Verwunderung stand auf seinem Gesicht geschrieben. Es war doch ein schnurriger Geselle, dieser Kreisrichter.

      Der Kreisrichter lächelte wieder. »Ich schulde den Menschen das, was meinem Leben Inhalt gibt: Ich bin Musiker – leidenschaftlicher Violinspieler – und daher stehe ich in Schuld bei den verstorbenen Meistern. »Ich denke Musik – verstehn Sie –«

      Thomas schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin absolut unmusikalisch. Ob man Töne auf den Därmen einer toten Katze hervorbringt, oder ob dasselbe Geschöpf Töne hervorbringt, wenn man es kräftig in den Schwanz kneift, ist für mich ganz derselbe Genuß.«

      »Schade,« sagte der Kreisrichter – »schade! Es ist so wenig Reichtum unter den Menschenkindern, daß es traurig ist, wenn man sich auch nur etwas von dem Vorhandenen rauben läßt. Und Harmonie ist ein Reichtum – ein geistiger Reichtum.«

      »Mag sein,« wandte Thomas ein, – »aber ich bin sehr unmoralischen Individuen im Musikerfach begegnet. Wahrhaftig die größten Musikgenies sind oft moralisch sehr wenig wertvolle Menschen gewesen. Das habe ich jedenfalls gelesen, und ich bin von vornherein geneigt, es zu glauben.«

      »Ich will es nicht bestreiten,« sagte der Kreisrichter. »Die moralische Wertung ist eine eigene Sache, und es ist nur unter dem Gesichtswinkel der Selbsterhaltung, daß sich bestimmte Kategorien für gut und böse aufstellen lassen. Ich liebe die Musik und für mich ist Musik ein absolut Gutes. Tolstoi betrachtet die Musik als den breiten Weg zu den Pforten der Hölle, das heißt Ursache und Wirkung umkehren. Ein Diebsgeselle, der vortrefflich Haydn spielt, ist mir als Mensch mehr wert als einer der ›König Christian‹ falsch singt. Ich würde einen Wagner laufen lassen und wenn er einen Massenmord begangen hätte, das ist meine Schwäche.«

      »Jeder hat seine,« erwiderte Thomas und zündete sich eine Zigarre an. Der gute Kreisrichter verlor sich ein bischen zu viel in allgemeine Betrachtungen, und Thomas war in hohem Grade ein Freund des Konkreten. Aber er war höflich und wenn ein Gespräch ihn nicht interessierte, ließ er den Betreffenden ruhig weitersprechen.

      Der Kreisrichter schwieg indessen.

      Thomas rauchte in Ruhe seine Zigarre.

      »Haben Sie die gemeinsame Arbeit aufgegeben?« sagte er endlich mit einem leichten Lächeln. – »Ich kann Ihnen nicht versprechen, daß ich die Nachforschung nach Onkel Busgaards Dieb wegen Violine und Klavier aufschieben werde; das ist nun einmal nicht meine Arbeitsmethode, aber ich glaube doch, daß wir auch ohne Musik ein Resultat erreichen. Onkel ist ein leidenschaftlicher Musikant, und wenn die Herren das Orchestrale übernehmen wollen, so werde ich meinerseits den minder lyrischen Teil der Arbeit besorgen. Ist es Ihnen nicht so am liebsten, Herr Kreisrichter?«

      Der Kreisrichter nickte. »Ich schulde Ihnen eine Erklärung, Herr Assessor,« sagte er, »und die sollen Sie haben, da die blinde Vorsehung uns nun einmal zusammengeführt hat. Ich lebe für meine Musik, aber ich muß eine Tretmühle für meinen Körper haben. Sie könnten mich dazu anstellen, die Buchstaben in der Berlingschen Abendzeitung zu zählen, wenn es nur etwas wäre, was täglich zu erledigen wäre. Ich muß eine Mühle treten, und nun bin ich in diese hineingeglitten. Ich trete meine Mühle; manche finden, ich tue es respektabel, andere meinen, es könnte besser sein. Ich selber trete nur, und wenn die Mühle steht, nehme ich meine Violine und spanne eine Brücke zwischen mir und dem Ewigen; auf der steigen meine Seele und meine Gedanken hinauf zu dem, was für mich der Sinn des Ganzen ist.

      Das verstehen Sie nicht, weil Sie wohl nicht Künstler sind! Ich will nicht behaupten, daß ich es selber verstehe, doch so ist es, und so ist es gut und segensreich. – Ja, ich bin eine wunderliche Schnecke; aber ich werde nun einmal nicht mehr anders, und wäre ich nicht zufällig Kreisrichter in Leire, würde ich Sie wahrhaftig nicht mit meiner geistigen Einrichtung beschwert haben. Dazu bin ich nun genötigt. Ich trete meine Mühle und Sie werden erfahren, daß ich es ruhig und einigermaßen geschickt tue, aber wenn Sie forsch vorgehen wollen, wie es vermutlich Ihre Absicht ist, so ist es am besten, Sie wissen dies vorher, sonst gerate ich vielleicht mit den Zehen ins Rad und dann dreht sich die Mühle bekanntlich nicht.«

      Dazu war nichts zu sagen, und als verständiger Mann, der Thomas war, sagte er auch nichts.

      Die beiden erreichten Roskilde ohne ein einziges Wort über den Diebstahl auf Braendholt gewechselt zu haben. Und aus diesem Umstand hat der Leser wirklich Grund zu vermuten, daß die beiden Herren ihm noch Überraschungen bieten werden. – Was auch von ihnen erwartet wird.

      Häusliche Szenen

      Gutsbesitzer Busgaard meldete den Diebstahl schriftlich bei dem Gericht in Leire und unternahm sonst keine Schritte. Wohl wütete er zunächst gewaltig, aber da das Geld fort war und nicht wiederkam, wieviel er auch wütete, so beschloß er in muhammedanischer Art alle Verantwortung auf die Obrigkeit zu wälzen, in der sicheren Vertröstung, daß sie nichts ausrichten würde. Wir wollen mit ihm nicht ins Gericht gehen, wegen seines mangelnden Zutrauens. Das Telegramm an Thomas war hinter seinem Rücken abgesandt worden. Das war ein kluger Schritt, aber ein Schritt, der vorbereitet werden mußte. Und dieser Vorbereitung sollen wir nun beiwohnen.

      Die Szene ist idyllisch. Mittwoch Morgen auf Braendholt um 9 Uhr. Die Familie, die wir also kennen, ist im Wohnzimmer versammelt und der Hausherr und Ingenieur Willumsen spielen eine Sonate. Die übrige Familie hört zu. Die Mädchen arbeiten in Speisekammer und Küche und draußen in Scheunen und Ställen wird gewirtschaftet. Arthur Franck ist noch nicht aufgestanden, er liegt unter dem steinharten Federbett des Waldhüters und schnarcht.

      Wir lassen ihn liegen und werfen einen Blick


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