Der sechste Sinn. Palle Adam Vilhelm Rosenkrantz
2500 Kronen verloren hat in einem Haus, das in meinem Gerichtsbezirk liegt, und daher interessieren Sie mich im Augenblick im allerhöchsten Grade.«
»Das hatte ich ganz vergessen,« sagte der Gutsbesitzer und zog ein saures Gesicht bei der Erinnerung an den Verlust.
Der Kreisrichter lächelte. »Sie sind also auch ein glücklicher Mann. Ein glücklicher Mann ist der, der vergessen kann, daß man ihm vor kurzem 2500 Kronen gestohlen hat. Den Dieb habe ich nicht, so glücklich bin ich nicht, aber ich habe mir den Beistand Ihres Neffen gesichert, und ich habe die feste Gewißheit, daß ich darin auf alle Fälle klug und bedachtsam gehandelt habe. Es ist mir deshalb darum zu tun, daß Sie, wenigstens solange unsere Untersuchungen währen, wenn nicht mit Wohlwollen, so doch mit einem gewissen Vertrauen auf die Juristen blicken, die Sie doch nun einmal selber herbei gerufen haben und in die Sie sich daher schicken müssen. Mein Polizeidiener Hansen ist ein flinker Spürhund, und ihren Neffen nennen sie drinnen in der Hauptstadt den Mann mit dem sechsten Sinn. Also, des Diebes können Sie sicher sein.«
Nach dieser ungewöhnlich langen Auseinandersetzung sank der Kreisrichter im Stuhl zurück und sah seinen Mandanten wohlwollend fragend an.
Busgaard brummte: »Sicher – ja die Sicherheit hat mich 2500 Kronen gekostet. Die sind weg, aber daß die Polizei den Dieb erwischen sollte – nie!«
»Soll ich Ihnen etwas anvertrauen?« fragte Heiden mit seinem sanftesten Lächeln. »Ich glaube es auch nicht. So werden Sie jedenfalls nicht enttäuscht.«
Busgaard sperrte Mund und Nase auf, und Heiden fuhr fort: »Wissen Sie vielleicht, wo der Dieb ist?«
»Ich –?«
»Ja, sehn Sie. Sie sitzen mitten darin, und Sie wissen es nicht. Finden Sie es da nicht etwas viel verlangt, daß ich, der ich anderthalb Meilen davon sitze, wissen soll – –«
»Das muß ich sagen,« fiel Busgaard ein.
»Ja, das dürfen Sie gern,« fuhr der Kreisrichter in demselben sanften Ton fort. »Es ist nämlich sehr klug. Sie sind überzeugt, daß die Obrigkeit nicht dazu taugt, die Diebe zu finden. Und in diesem Punkte werde ich Ihnen durchaus nicht widersprechen. Das ist sehr schwer, weil die Herren ein Interesse daran haben, inkognito zu bleiben. Meine Auffassung ist es denn auch, daß die Richter dazu da sind, die Verbrecher, mit denen die Herren kommen, zu verurteilen, das ist meiner Treu Arbeit genug, und es ist wohl ein bißchen viel verlangt, daß wir auch noch Untersuchungen anstellen sollen, wer das Verbrechen begangen hat. Dazu gehören gar keine Voraussetzungen, auf jeden Fall keine juristische Ausbildung, und es wird Ihnen sicher bekannt sein, daß die Nationalhelden, die in die Literatur übergegangen sind, die Sherlock Holms und Nick Carter und wie die Herren sonst heißen, alle viel klüger sind als die Polizei, und das sind, wie Sie in allen Ihren Blättern lesen können, unsere nationalen Gentlemen of the press auch.«
Busgaard hörte ihn etwas betreten an. Dann sagte er: »Na, sind Sie von der Art?«
»Von der Art bin ich,« lautete die friedfertige Antwort. »Sie müssen mich nehmen wie ich bin. Ihre Aussichten sind gering und es ist, wie gesagt, am vernünftigsten, mit niedrigen Erwartungen zu beginnen, was Sie ja auch, wie Sie mir offenherzig mitgeteilt haben, tun.«
Busgaard stand auf. »Das muß ich übrigens sagen –«
»Überflüssig,« unterbrach ihn Heiden, »ganz überflüssig, denn ich habe es bereits gesagt. Ich bin eine harmonische, poetische Natur, und sollte es mir glücken, Sie auf Moll herabzustimmen, so ist meine Reise nicht vergebens gewesen.«
»Halten Sie mich zum Narren?« brauste Busgaard auf, mit gesenktem Kopf, wie ein angriffsbereiter Stier. Jetzt wurde er nämlich zornig.
Doch der Kreisrichter erhob seine schmale, weiße Hand und sagte mild und freundlich wie vorher: »Ich spiele Violine, mein Herr, und vor dem Konzert stimme ich mein Instrument und mein Mitspieler muß sich im Ton nach mir richten. Das wissen Sie ja, der Sie selber ein Streichinstrument spielen. Dann spiele ich oft mit Sordine weiche, lange Striche, Verehrtester! Nicht wahr?
Wo man spielt, da laß dich ruhig nieder,
Böse Menschen haben keine Lieder –
Wir beide werden noch Freunde werden.«
Busgaard blieb stehen und starrte ihn an. – Frau Busgaard trat aus dem Eßzimmer herein.
»Wollen die Herren nicht eine Herzstärkung haben. – Das Frühstück ist fertig.«
»Vielen Dank,« erwiderte Heiden und schritt an Frau Busgaard vorbei auf die Tür zu. Busgaard gab seiner Frau einen Wink und sie näherte sich ihm.
»Mutter,« sagte er, so leise er konnte, »er ist verrückt, komplett unmöglich.«
Frau Busgaard dämpfte: »Aber Bus!«
Der Kreisrichter, der das eheliche Duett gehört hatte, wandte sich auf der Schwelle lächelnd um.
»Kümmern Sie sich nicht darum, liebe Frau Busgaard. Sie kennen und schätzen Ihren Mann; ich kenne ihn noch nicht richtig, aber ich glaube sicher, ich werde ihn schätzen lernen. Er spielt mehrere Instrumente, auch Gonggong und Pauke, das sind Instrumente, die ihre Berechtigung in jedem größeren Orchester haben. Und sie sind leicht zu handhaben. – – Ist dies der richtige Weg?«
Und lächelnd glitt der Kreisrichter über die Schwelle dem Tisch entgegen, der sich bog unter der Last der Schüsseln, während der Herr des Hauses hinterhertrippelte, desorientiert und kopfschüttelnd. – – Das war doch ein schnurriger Kauz, dieser Kreisrichter.
Wenn ein Kriminalassessor liebt
Kreisrichter Heiden hat gefrühstückt und sitzt jetzt am Klavier in der Wohnstube, damit beschäftigt die Familienvioline zu stimmen, um ein Duo mit dem bestohlenen Busgaard zu probieren. Polizeidiener Hansen hat einen Bissen Brot und einen Schnaps in der Leutestube erhalten und ist jetzt dabei den Taillenumfang der Wirtschaftsschülerin, Fräulein Antonsen, zu messen – dies geschieht aus Gründen der Vorsicht in der Speisekammer.
Und Thomas Klem – Dr. jur. und Kriminalassessor, der Mann, auf dessen Schultern alles ruht – er steht in der Fensternische in seiner Stube, während die Sonne die Eisblumen am Fenster schmilzt, tief versunken in seine starke junge Liebe.
Thomas Klem liebte Martine Luthera Busgaard – ja das klingt nach Lustspiel, das duftet nach Spießbürgerlichkeit, das kann unmöglich erhaben sein. Und doch, es ist erhaben, denn die Liebe ist erhaben. An und für sich ist diese Bemerkung banal, aber an dieser Stelle, in dieser Erzählung, die sich hier zu Höhen zu erheben trachtet, die sie später nicht wieder erreichen wird, muß es mit fünfzölligen Nägeln im Bewußtsein des Lesers festgenagelt werden, daß in dem Satze: die Liebe ist erhaben – doch mehr als Banalität steckt.
»Tine,« sagte Thomas, der selber die Empfindung hatte, daß ihre Liebe sich in ungewohnt erhabene Regionen verstieg, »der Kuß der Geliebten schmeckt doch am besten!«
»Thomas,« sagte Tine mit Zweifel in der Stimme.
»Nein, Geliebte, wie kannst Du an Jung-Hagbarths Treue zweifeln.«
»Warum nennst Du Dich Hagbarth?« fragte Tine mit einem Lächeln, das die Mißstimmung verscheuchen sollte.
»Frage nicht,« antwortete Thomas und küßte sie – »für Dänemark ist das Erhabene in der Liebe durch Hagbarth und Signe symbolisiert, jüngst vorgeführt im Tiergarten unter einigen herrlichen Buchenstämmen, auf die die Kopenhagener bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal aufmerksam wurden. Tine, Dein Vater gleicht der Königin Bera, ohne die Perfektibilität dieser hohen Dame. – Tine!«
»Wenn Vater nur wollte,« seufzte die holde Maid.
Aber ihr Vater wollte nicht. Es läßt sich nicht verhehlen, daß ein junger Mann, der in züchtiger Liebe ein Heim gründen will, Mittel haben muß, und die Assessoren des Kriminalgerichts sind bezahlt wie bessere Kegeljungen, vielleicht weil der Öffentlichkeit die Augen für ihre Vortrefflichkeit noch nicht aufgegangen sind.
Thomas seufzte. »Tine, ich habe bisweilen Lust der Gerechtigkeit Lebewohl zu sagen und ins Gastwirtsfach überzugehen. Das Bier ist ja der Weg