Die Frau in Weiss. Уилки Коллинз
sagte Miß Halcombe, »ich glaube, sie werden Sie in Erstaunen setzen.«
Als sie den Brief zum Lichte erhob, wandte Miß Fairlie sich von dem Geländer, blickte zweifelhaft die Terrasse auf und ab, that einen Schritt nach der Glasthür zu und stand dann uns gegenüber still.
Unterdessen las Miß Halcombe nur die letzten Sätze vor, deren sie erwähnt hatte:
»Und jetzt, lieber Philipp, da ich an’s Ende meines Papiers gelangt bin, zu der wirklichen Ursache, der erstaunlichen Ursache meiner großen Liebe zu dieser kleinen Anna Catherick. Mein lieber Philipp, obgleich nicht halb so hübsch, ist sie dennoch in Folge eines jener sonderbaren Spiele des Zufalls mit Aehnlichkeiten wie man sie zuweilen sieht, in Haar, Hautfarbe, Farbe der Augen und Gesichtsform das leibhafte Ebenbild ……«
Ich sprang von meinem Sessel in die Höhe, ehe Miß Halcombe noch die nächsten Worte aussprechen konnte. Dasselbe Gefühl, welches mir die Berührung der Hand auf der einsamen Landstraße verursacht hatte, durchschauerte mich wieder.
Da stand Miß Fairlie, eine einsame Gestalt im Mondlichte, in ihrer Haltung und der ihres Kopfes, in ihrer Hautfarbe und ihrer Gesichtsform, in jener Entfernung und unter jenen Verhältnissen das lebendige Ebenbild der – Frau in Weiß. Der Zweifel, der mich stundenlang gequält hatte, wurde in einem Augenblicke zur Gewißheit. Das Etwas, was mir gefehlt hatte, war – mein eigenes Erkennen der ominösen Aehnlichkeit zwischen der aus der Irrenanstalt Entflohenen und der Erbin von Limmeridge House!
»Sie sehen es!« sagte Miß Halcombe. Sie ließ den Brief fallen, und ihre Augen blitzten, als sie den meinigen begegneten. »Sie sehen es jetzt, wie meine Mutter es vor elf Jahren sah!«
»Ich sehe es – und es betrübt mich mehr, als ich es sagen kann. Jene hilflose, freundlose, verlassene Frau auch nur durch eine zufällige Aehnlichkeit mit Miß Fairlie in Verbindung zu bringen, sieht aus, als ob man einen Schatten auf die Zukunft eines so strahlenden Wesens, wie das, welches jetzt vor uns steht, werfen wollte. Lassen Sie mich so schnell wie möglich den Eindruck los werden. Rufen Sie Miß Fairlie fort aus dem entsetzlichen Mondlichte – bitte, rufen Sie sie herein!«
»Mr. Hartright, Sie setzen mich in Erstaunen, was die Frauen auch immer sein mögen, die Männer, dachte ich, seien im neunzehnten Jahrhundert über den Aberglauben erhaben.«
»Bitte, rufen Sie sie herein!«
»Stille! stille! sie kommt schon von selbst. Sagen Sie Nichts in ihrer Gegenwart, lassen Sie die Entdeckung dieser Aehnlichkeit ein Geheimniß zwischen Ihnen und mir bleiben. Komm’ herein, Laura, komm’ herein und erwecke Mrs. Vesey mit Clavierspiel. Mr. Hartright bittet noch um etwas Musik, und zwar diesmal von der leichtesten und lebhaftesten Art.«
VIII
So endete mein an Begebnissen so reicher erster Tag in Limmeridge House.
Miß Halcombe und ich bewahrten unser Geheimniß. Nach der Entdeckung der Aehnlichkeit schien uns kein neues Licht auf das die Frau in Weiß betreffende Geheimniß fallen zu sollen. Bei der ersten sicheren Gelegenheit leitete Miß Halcombe ihre Stiefschwester vorsichtig auf eine Unterhaltung über ihre Mutter, alte Zeiten und Anna Catherick. Doch waren Miß Fairlie’s Erinnerungen an die kleine Schülerin ihrer Mutter nur von der unbestimmtesten und allgemeinsten Art. Sie entsann sich, daß man damals von einer Aehnlichkeit zwischen ihr und der kleinen Anna Catherick gesprochen hatte; aber sie erwähnte Nichts von dem Geschenke der weißen Kleider, noch von der eigenthümlichen Ausdrucksweise, in welcher das Kind so ungekünstelt seine Dankbarkeit ausgesprochen hatte. Sie erinnerte sich, daß Anna nur wenige Monate in Limmeridge geblieben und dann nach Hampshire zurückgekehrt sei; aber sie konnte nicht sagen, ob die Mutter je mit ihrer Tochter zurückgekehrt sei, oder ob man später wieder von ihnen gehört hatte. Miß Halcombe’s ferneres Nachforschen in den wenigen noch übrigen Briefen Mrs. Fairlie’s, welche sie noch nicht gelesen hatte, nützte uns weiter Nichts, die Ungewißheiten aufzuklären, welche uns noch immer blieben. Wir hatten uns überzeugt, daß die unglückliche Frau, welche mir zur Nachtzeit begegnet war, und Anna Catherick eine und dieselbe Person sei – wir waren wenigstens so weit gekommen, daß wir die mangelhafte geistige Entwickelung des armen Geschöpfes mit der Sonderbarkeit, sich ganz in Weiß zu kleiden, und mit ihrer in reiferen Jahren fortgesetzten, kindlichen Dankbarkeit gegen Mrs. Fairlie in Verbindung brachten – und damit waren für jetzt unsere Entdeckungen zu Ende.
Tage vergingen und Wochen; die Spur des goldenen Herbstes zog sich sichtbar durch den grünen Sommer der Bäume. Friedliche, eilende, glückliche Zeit! Meine Erzählung gleitet jetzt an dir vorüber, so schnell wie einst Du an mir. Wie viel ist mir von all den Schätzen des Glückes, die Du so freigebig in mein Herz gossest, geblieben, das Inhalt genug besäße, um in diesen Blättern aufgezeichnet zu werden? Nichts als das traurigste Bekenntniß, das ein Mann nur machen kann – das Bekenntniß seiner Thorheit.
Das Geheimniß, welches dies Bekenntniß enthüllt, mitzutheilen, sollte mich wenig Anstrengung kosten, da es mir indirect bereits entschlüpft ist. Die armseligen, schwachen Worte, denen es nicht gelungen ist, Miß Fairlie zu beschreiben, haben statt dessen die Gefühle verrathen, welche sie in mir erweckte. Aber so geht es immer! Unsere Worte sind Riesen, wo sie uns schaden, und Zwerge, wo sie uns nützen können.
Ich liebte sie.
Ach! wie gut kenne ich all den Kummer und Hohn, der in diesen drei Worten enthalten ist! Ich kann mit dem zärtlichsten Weibe, welches dies liest und mich bemitleidet, seufzen. Ich kann so bitter, wie der hartherzigste Mann, der es in Verachtung von sich wirft, darüber lachen. Ich liebte sie! Fühlt für mich oder verachtet mich – ich bekenne es mit dem unerschütterlichen Entschlusse, die Wahrheit zu gestehen! – –
Gab es keine Entschuldigung für mich? Gewiß, es lag einige Entschuldigung in den Verhältnissen, unter welchen ich die Zeit meiner gemietheten Dienste in Limmeridge House zubrachte.
Meine Morgenstunden vergingen still und ruhig in der Einsamkeit meines Zimmers. Ich hatte an dem Aufkleben der Zeichnungen gerade Arbeit genug, um meine Augen und Hände angenehm zu beschäftigen, während mein Geist frei blieb, sich dem gefährlichen Rausche ungezügelter Phantasie hingebend. Eine gefährliche Einsamkeit. Denn sie währte lange genug, um mich schwach zu machen, nicht aber, um mich zu stärken. Eine gefährliche Einsamkeit, denn ihr folgten Nachmittage und Abende, die Tag für Tag, eine Woche nach der anderen in der Gesellschaft zweier Frauen vergingen, von denen die Eine alle Vorzüge der Anmuth, des Witzes und der feinen Bildung, die Andere alle Reize der Schönheit, Sanftmuth und der einfachen Wahrheit besaß, welche das Herz eines Mannes veredeln und bezwingen können. Es verging kein Tag, an dem nicht in jener gefährlichen Vertraulichkeit zwischen Lehrer und Schülerin Miß Fairlie’s Hand die meinige berührte oder ihre Wange, indem wir uns zugleich über ihr Zeichenbuch beugten, fast die meinige streifte. Je aufmerksamer sie jede Bewegung meines Pinsels beobachtete, desto näher war mir der liebliche Duft ihres Haares und der warme Hauch ihres Athems. Es gehörte zu meinem Dienste, förmlich in dem Lichte ihrer Augen zu leben – einen Augenblick mich über sie zu beugen und zwar ihren Schultern so nahe, daß ich bei dem Gedanken, sie zu berühren, zitterte; im nächsten zu fühlen, wie sie sich über mich beugte, um zu sehen, was ich zeichne, und zwar so tief herab, daß sie ihre Stimme senkte, wenn sie zu mir sprach, und ihre vom Winde bewegten Bänder meine Wange streiften, ehe sie dieselben zurückziehen konnte.
Die Abende, welche diesen Landschafterausflügen folgten, brachten mehr Abwechslung als Störung in diese unvermeidlichen unschuldigen Vertraulichkeiten. Meine natürliche Liebe zu Musik, welcher ihr Spiel, so seelenvoll im Ausdrucke, so zart-weiblich in der Auffassung, entgegenkam, und ihre Freude, mir das durch die Ausübung ihrer Kunst wiederzugeben, was ihr die Ausübung der meinigen an Genuß geboten hatte, webten nur noch ein neues Band, das uns fester und fester aneinander knüpfte. Die Zufälligkeiten der Unterhaltung; die einfachen Gewohnheiten, nach denen eine solche Kleinigkeit, wie zum Beispiel unsere Plätze bei Tische, bestimmt wurden; Miß Halcombe’s fröhliche Neckereien, gegen des Lehrers Sorgfalt und den Enthusiasmus der Schülerin gerichtet; Mrs. Vesey’s harmloses, schläfriges Lob, das Miß Fairlie und mich als zwei musterhafte junge Leute verband, die sie niemals störten – alle diese Kleinigkeiten und noch manche andere trugen dazu bei, uns in denselben häuslichen Zirkel zu schließen