Die wichtigsten Werke von Richard Voß. Richard Voß
keinen Eindruck.
Die Stellung, die Anna Pawlowna zu der Zeitströmung nahm, war eine viel innerlichere, als sie selbst wußte. Sie hatte ein starkes Unabhängigkeitsgefühl, große Gerechtigkeitsliebe und eine grenzenlose Verachtung für alles Hergebrachte, was seine Berechtigung nur durch Tradition oder Sitte fand. Die leidenschaftlichen Regungen, die im Volke erwachten, schienen ihr den absterbenden Körper des Staates und der Gesellschaft mit neuem Leben zu erfüllen. Da sie nicht nur eine sehr stolze, sondern auch eine sehr mutige Frau war, so sah sie den Zerstörungen, die kommen mußten, mit großer Ruhe entgegen. Sie kompromittierte sich mit vollem Bewußtsein, ohne sich einen Augenblick die Gefahr zu verhehlen, in die sie sich begab. Der Gedanke an den Tod hatte nichts Schreckliches für sie. Ihr Leben war ihr ziemlich gleichgültig, und sie war durch langes Grübeln zu der Überzeugung gekommen, daß in der ganzen russischen Gesellschaft etwas lag, das sich überlebt hatte. Zu dieser Anschauung trug ihr eigenes Schicksal freilich am meisten bei. Ihre Ehe war von ihrem Vater gemacht worden. Der Prinz, ein bereits älterer Mann, der sein Leben in vornehmen Passionen verzettelte, erkaufte sich zuletzt durch eine hohe Stellung und ein ungeheures Vermögen die schöne Frau. In allen Dingen des Frauenlebens unwissend wie ein Kind, wurde Anna Pawlowna Gattin, um bald von dem ganzen Abscheu des erfahrenen, tödlich beleidigten Weibes ergriffen zu werden. Bei ihrer wunderbaren Schönheit konnte es nicht fehlen, daß auf ihre Gunst förmlich spekuliert wurde. Sie erkannte das und eine namenlose Empörung erfaßte sie, die sie vor jeder Verirrung ihrer Phantasie schützte. Aber sie wußte sehr wohl, daß sie nicht aus Tugend tugendhaft blieb. Denn sie hielt eine Ehe, wie die ihre, für entwürdigend und unsittlich und würde keinen Augenblick gezögert haben, dieselbe zu brechen, sobald sie geliebt hätte. Das Leben, wie sie es kennen gelernt, verursachte ihr Langeweile, Verachtung und Überdruß, und so gelangte sie dahin, daß auch der Nihilismus lediglich eine Sache war, der sie sich hingab, weil ihr Herz sich nach Aufregung sehnte. Vielleicht auch ward sie, ihr selbst unbewußt, von der Hoffnung geleitet, daß unter den Männern, die Rußlands Schicksal mit blutiger Hand umgestalten wollten, sich jener ungewöhnliche Mann befand, nach dem sie in ihren geheimsten Regungen sich sehnte. Dieser Mann konnte der Sohn eines Bauern sein und große rote Hände haben, wenn er nur von jener Leidenschaft für sie erfüllt war, welche diesem rätselvollen Frauengemüt als Liebesideal vorschwebte.
Jenes Gespräch mit Wladimir Wassilitsch hatte sie, obgleich sie daraus als Siegerin hervorgegangen war, tief gedemütigt. Sie wiederholte sich jedes Wort, das sie gehört, jedes Wort, das sie selber gesprochen, grübelte darüber und kam zu den spitzfindigsten Resultaten. Saschas Gestalt begann in ihrer Phantasie eine Rolle zu spielen. Sie log sich keinen Helden vor; sie sah seine groben, roten Hände; aber sein trauriger Blick, sein kindliches Lächeln, sein heiliger Ernst, die Einfalt und Reinheit seines Wesens machten tiefen Eindruck auf sie. Er liebte sie. Es war nicht die gewöhnliche Leidenschaft der Männer, sondern eine Empfindung von so lauterer und dabei so gewaltiger Art, wie sie ihr niemals vorgekommen, wie sie gewiß durchaus ungewöhnlich war. Da trafen die Nachrichten aus Petersburg ein. Ihr Mann war in der Nähe des Zaren, der Zar selbst kam nach Moskau, in ihr Haus; welche Tragweite konnte das haben! Zweifellos würden die Terroristen diesen Umstand benützen, und faßten sie den geringsten Argwohn gegen ihre Person, so war sie verloren. Mit einem Schlage stand sie mitten in der Bewegung, die Fäden der furchtbaren Verschwörung liefen in ihrem Hause zusammen, sie hielt das Schicksal Rußlands in ihrer Hand. Das entschied.
Sie hatte sich mit den Briefen in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, überlegte alles und kam zu festen Entschlüssen. Gegen Abend ließ sie sich ankleiden und fuhr in die Stadt.
Am Pokrowskaja-Schlag stieg sie aus; sandte Wagen und Diener zurück, ging eine Strecke zu Fuß, nahm dann eine Droschke und fuhr in die Nowaja-Andronowka-Vorstadt zum Hause ihres Gärtners. Sie wollte Wladimir Wassilitsch sprechen.
Achtundzwanzigstes Kapitel
Als Anna Pawlowna in den Hof trat, begoß Tania gerade ihre Bohnenpflänzchen. Dabei war sie niedergekniet, um die zarten Triebe an dem verdorrten Stamm des Birnbaums aufzubinden. Bei dem Anblick der Fremden erhob sie sich, blieb jedoch unter dem Baum stehen. Anna Pawlowna trat auf sie zu.
»Sie sind Tania Nikolajewna?«
Tania neigte ihr Köpfchen.
»Nun, ich bin Anna Pawlowna. Ist Wladimir Wassilitsch zu Hause?«
»Er ist ausgegangen.«
»Ich muß ihn aber sprechen.«
»Darf er vielleicht zu Ihnen kommen?«
»Nein.«
Sie stand unschlüssig, was zu tun sei und sah Tania an, erstaunt über die Schönheit des Mädchens. Was für schwermütige Augen sie hatte!
»Also Sie sind die Frau von Wladimir Wassilitsch?«
Die arme Tania traf diese Frage wie ein Dolchstoß. Wenn sie wüßte! dachte sie. Ich bin ja so schlecht, daß ich keinem Menschen mehr in die Augen sehen kann. Gott möge mir barmherzig sein.
»Ist, Wladimir Wassilitsch freundlich gegen Sie? Reden Sie offen, liebes Kind, ich meine es gut mit Ihnen. Ihr Mann hat eine rücksichtslose Natur, die Ihre scheint sehr zart zu sein.«
»Wladimir Wassilitsch liebte mich schon, als ich noch ein Kind war; er rief mich zu sich und ich bin hergekommen und habe um seinetwillen Vater und Mutter verlassen. Er wird mich gewiß in Ehren halten.«
»Sie wissen, was er hier treibt?«
»Ich weiß es. Es ist furchtbar, aber es wird wohl notwendig sein, sonst würde er es nicht tun.«
»Sie haben ein starkes Vertrauen zu ihm.«
»Sollte ich ihm mißtrauen?«
»Hoffentlich ist seine Liebe zu Ihnen groß genug, Sie von allem fernzuhalten.«
»Wohin er geht, muß ich ihm folgen. Das ist meine Pflicht. Wenigstens darin will ich sein Weib sein, daß ich alles mit ihm teile.«
Ich möchte wohl wissen, dachte Anna Pawlowna, ob eine so große Leidenschaft unter den Frauen der Gesellschaft gefunden würde. Dabei sind die Empfindungen dieser Leute aus dem Volke so einfach. Wir müssen uns alles komplizieren, bei uns spielt alles in hundert Nuancen. Das Volk liebt und haßt. Alle Schattierungen und Färbungen fallen gänzlich fort. Beneidenswerte Menschen! Sie frug: »Kann ich mit Wera Iwanowna reden?«
»Wera Iwanowna ist mit Natalia Arkadiewna auf dem Lande. Aber wollen Sie nicht ins Haus treten?«
»Und Sascha?«
»Sascha ist hier. Wünschen Sie ihn zu sprechen?«
»Wo ist er?«
»In der Druckerei. Colja kann ihn rufen.«
»Das ist nicht nötig. Ich kann zu ihm gehen.«
»Es ist beschwerlich.«
»Was tut das? Rufen Sie nur jemanden, der mich hinführt.«
»Colja weiß Bescheid.«
»Wer ist dieser Colja?«
»Ein Knecht.«
»Ist es nicht gefährlich, ihm solche Geheimnisse anzuvertrauen? Wird der Mann treu sein?«
»Sie kennen ihn nicht.« Und Tania muhte lächeln bei dem Gedanken, daß Colja nicht treu sein könnte.
Colja wurde gerufen und kam nach einer Weile angezottelt. Seit dem nächtlichen Kampf mit Wladimir Wassilitsch war eine große Veränderung mit ihm vorgegangen; es war als habe er dabei eine schwere innere Verletzung davongetragen. Tania bemerkte sein verwandeltes Wesen kaum, obgleich er um sie her schlich wie ein treuer Hund.
»Das ist Anna Pawlowna, unsere Barina. Sie wünscht zu Sascha geführt zu werden. Eile dich!«
Während Colja sich beeilte, dachte er: So, das ist unsere Barina? Ei, der sollte man doch!