Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch). Christian Morgenstern
dem Freien, zu wohnen.
Es weht mir um die Stirne
ein Hauch wie von Frauengewand ..
Folgte zum steilen Firne
mir wer aus dem Unterland?
Es beugt sich zu mir nieder
ein liebes, schönes Gesicht ..
Glaubst Du, ich kenne Dich nicht,
Sängerin meiner Lieder?
Du bist ja, wo ich bin,
mein bester Kamerade!
Bei Dir trifft mich kein Schade,
meine Herzenskönigin!
»Du flohest aus Finsternissen,
mühsamen Mutes,
ich weiss es.
Du hast zerrissen
Dein Herz, Dein heisses,
und bei dem Leuchten Deines Blutes
bist Du den dunklen Pfad
weiter getreten,
bis Du mich fandest
und mit tiefen Gebeten
mich an Dich bandest,
dass ich Dich liebgewann,
dem ringenden Mann
ein treuer Kamerad.
Du brachst uralte Ketten
und kamst heute Nacht
in mein Reich.
Ich will Dich betten
an meiner Brust
warm und weich,
in Träumepracht
deine Seele verzücken:
der ganzen Welt
Aussen und Innen
sei Deinem Sinnen
preisgestellt.
Magst sie schmücken
mit lachender Lust,
magst sie tausendfach
deuten und taufen,
mit Berg und Wald,
mit Wiese und Bach,
mit Wolken und Winden,
mit Sternenhaufen
Dein Spiel treiben,
Deinen Spass finden;
brauchst nicht zu bleiben
an einem Ort;
magst die Welt
bis zu Ende laufen;
denn Hier oder Dort,
wo Du auch seist,
wo sich das Himmelszelt
über die Erde spannt:
das sei Deinem Geist
Phanta's Schloss genannt.«
Schneller strömt des Blutes Fluss,
Wonne mich durchschauert,
auf meinen Lippen dauert
sekundenlang Dein süsser Kuss.
Nun nimm mich ganz, und trage
mein Fragen mit Geduld!
Für alles, was ich nun sage,
trägst Du fortan die Schuld.
PHANTA'S SCHLOSS
Die Augenlider schlag ich auf.
Ich hab so gross und schön geträumt,
dass noch mein Blick in seinem Lauf
als wie ein müder Wandrer säumt.
Schon werden fern im gelben Ost
die Sonnenrosse aufgezäumt.
Von ihren Mähnen fliessen Feuer,
und Feuer stiebt von ihrem Huf.
Hinab zur Ebne kriecht der Frost.
Und von der Berge Hochgemäuer
ertönt der Aare Morgenruf.
Nun wach ich ganz. Vor meiner Schau
erwölbt azurn sich ein Palast.
Es bleicht der Felsenfliesen Grau
und lädt den Purpur sich zu Gast.
Des Quellgeäders dumpfes Blau
verblitzt in heitren Silberglast.
Und langsam taucht aus fahler Nacht
der Ebnen bunte Teppichpracht.
All dies mein Lehn aus Phanta's Hand!
Ein König ich ob Meer und Land,
ob Wolkenraum, ob Firmament!
Ein Gott, des Reich nicht Grenze kennt.
Dies alles mein! Wohin ich schreite,
begrüsst mich dienend die Natur:
ein Nymphenheer gebiert die Flur
aus ihrem Schoss mir zum Geleite;
und Götter steigen aus der Weite
des Alls herab auf meine Spur.
Das mächtigste, das feinste Klingen
entlauscht dem Erdenrund mein Ohr.
Es hört die Meere donnernd springen
den felsgekränzten Strand empor,
es hört der Menschenstimmen Chor
und hört der Vögel helles Singen,
der Quellen schüchternen Tenor,
der Wälder Bass, der Glocken Schwingen.
Das ist das grosse Tafellied
in Phanta's Schloss, die Mittagsweise.
Vom Fugenwerk der Sphären-Kreise
zwar freilich nur ein kleinstes Glied.
Erst wenn mit breiten Nebelstreifen
des Abends Hand die Welt verhängt
und meiner Sinne masslos Schweifen
in engere Bezirke zwängt –
wenn sich die Dämmerungen schürzen
zum wallenden Gewand der Nacht
und aus der Himmel Kraterschacht
Legionen Strahlenströme stürzen –
wenn die Gefilde heilig stumm,
und alles Sein ein tiefer Friede –
dann erst erbebt vom Weltenliede,
vom Sphärenklang mein Heiligtum.
Auf Silberwellen kommt gegangen
unsagbar süsse Harmonie,
in eine Weise eingefangen,
unendlichfache Melodie.
Dem scheidet irdisches Verlangen,
der solcher Schönheit bog das Knie.
Ein Tänzer, wiegt sich, ohne Bangen,
sein Geist in seliger Eurythmie.
Oh seltsam Schloss! bald kuppelprächtig
gewölbt aus klarem Aetherblau;
bald ein aus Quadern, nebelnächtig,
um Bergeshaupt getürmter Bau;
bald ein von Silberampeldämmer
des Monds durchwobnes Schlafgemach;