Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch). Christian Morgenstern
1.
Hörst du die Bäume im Windstoß zischen?
Siehst du, wie sie sich drehen und winden
unter des Regens tausendsträhniger Geißel?
Gekrümmten Rückens, erstarrten Blutes,
flüstern sie unaufhörlich heisere Flüche
in den kalten, grausamen Herbst hinaus.
Blühten sie nicht in dankender Schönheit
Göttern und Menschen auf?
Bargen der Vöglein süßes Geschwätz nicht treu?
Schildeten nicht vor Schloßen das zarte Beet?
Und der Sonne furchtbare Feuer –
wer empfing sie, sich lautlos opfernd? ...
Sieh, wie die Armen im Sturm erschauern –:
Wie langzottige frierende Hunde,
denen das nasse gesträubte Fell
überwirbelt nach vorne weht,
trotzen gesträubt die trostberaubten,
und ihr herzzerbrechendes Seufzen
rauscht umsonst
ans graue Gewölb der Wolken.
2.
Der graue Herbst
lädt mich zu sich hinaus,
übern grauen See,
übern grauen Wald,
in die graue, graue Himmelsferne ...
Bin ich der einzige Mensch der Erde? ...
Tiefe Verlassenheit fällt mich an.
Morgenandacht
Ihr Götter der Frühe,
schenket mir gute Gedanken!
Küßt mir die helle Stirne
mit lächelnden Lippen!
Aufatmend tret ich hinaus
auf die Altane ...
Von leichten Winden gerührt,
schwanken die Büsche,
und, holdanwogend,
grüßt der glitzernde See
die treuen Ufer.
Fernher kommen
fleißige Segel gezogen, –
ihr Unsichtbaren,
tragen sie eure Geschenke?
Aber was frag ich!
Von euerer Nähe
Odem schauern
Himmel und Erde ...
Euren Odem selber im Busen,
tret ich,
überbegnadet,
fromm,
zurück ins Zimmer ...
Ein fünfzehnter Oktober
Vier Abendstimmungen am (53.) Geburtstag Friedrich Nietzsches
1.
Urplötzlich –
durch Vorhangspalten –
der Mond ...
Drunter,
schneehell,
der See ...
Dazwischen
schwarzblaue Kluft ...
Hinaus,
in den Nichtraum-Raum
der Myriaden Welten!
Abgrund!
Ausgrund!
Urungrund! ...
Nicht fallen, Geist! –:
Hier! –:
Lampe, Bücher, Tintenfaß!
O Narrheit!
Narrheit!
Narrheit!
2.
Was wollt ihr doch
hier um mich?
Wißt, wer ihr seid?
Wer ich bin?
Was wandelt durch uns?
Welch Spieles Puppen
sind wir?
»Lebe! lebe!«
Ich lebe ja!
Auch das ist Leben,
wenn unter dem Fuße
der Feindin Finsternis
der Wurm sich krümmt
und an ihm
zu beiden Seiten hinauf
strebt,
züngelt,
seufzet
– – –
3.
Wahrt euer Mitleid für euch,
gutherzige Menschlein!
Auch der düstersten Leidenschaft
bitterster Seufzer
ist köstlicher noch,
als was ihr uns bieten könntet!
In unserm Schmerz,
Zorn, Haß, Einsamsein –
wie viel glücklicher sind wir
als ihr!
Hinweg mit dem Leichnam,
den, trostbeflissen,
eu'r Eifer heranschleppt!
Fort mit der Mumie!
Was soll
den lebendigen Göttern
der tote!
4.
Und da ich nun so frei wie nur ein Mensch,
von Schönheit übervoll und hell an Geist,
so weiß ich nicht, was ich nicht zwingen sollte
in meiner Kunst gefügig Alphabet.
Frei, frei! du schönstes Wort der neuen Welt,
Paß aller Unersättlichen und Glück!
Wer ermaß schon deinen Wert?
Höher, heitrer wölbst du des Helden Stirn,
stolzer stößt ihm das Herz,
wuchtiger wirken die Lungen ihm,