Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch). Christian Morgenstern
Zu jeglichem Ding
will ich also sprechen:
»Sei mein Würfel!
Im Becher der Phantasie
will ich den höchsten Wurf
mit dir wagen!
Mit jedem Großen,
der aus dem Schoß
der rollenden Erde stieg,
will um den Kranz ich
mit dir werfen!«
Allzu zaghaft
spielte bisher der Mensch,
brach nieder zu oft
unter der Würfel Last, –
starke Sehnen
spür ich frohlockend –:
Wie viel Augen habt ihr,
Dinge?
Trotzt – ihr – mir? –
Einmal naht es euch doch,
daß ihr allzusamt
in meinen Becher müßt –
und ich ihn,
und mit ihm euch,
mir voran
in die Grube schmettre.
Im Eilzug
Über der Erde
erhabne Rundung,
hart dem Tag
auf fliehender Ferse,
rollende Räder
rauscht mit mir!
Vom Horizonte
schürzen Gewölke sich
nächtlich herauf
und schwärzen seltsam
ein formlos Gesicht
in den stahlhellen Himmel.
Ein breiter Stierkopf,
träg und tückisch,
wächst und schwillt es
über die Welt ...
dehnt und verzerrt sich ...
verschwimmt in Nacht ...
Rollet, raset
den Rücken der Erde,
Räder, empor!
Des Tages Gewandsaum
möcht ich noch einmal
inbrünstig küssen!
An Friedrich Nietzsche
Die Park-Kapelle spielte »Lohengrin«.
Da löste sich mein Blut zu jähem Gang,
daß heiß und weh das Herz mir überschwoll.
Auch Du hast jene Töne ja geliebt
und einst voll tiefen Dursts in dich getrunken,
auch Du an ihnen zitternd dich berauscht,
wie ich mich heute zitternd dran berausche.
O Du! ...
Und unter tausenden, die stumpf
ihr kaltes Ich behaglich wiederkäuten,
hab ich, mit starren, unerschlossnen Mienen,
in innern Tränen fassungslos geweint.
Refugium
Flieh um so tiefer in dich selbst zurück,
als du dich keinem recht enträtseln kannst ...
Verhäng die Fenster deiner Seele
mit dichtgeknüpften Alltagsphrasen!
Mit lauem Lächeln stehn sie um dich her
und rühren hier und tasten dort dich an –
Gib acht! Bedroht sind deine Schätze
von tempelschänderischen Fingern.
Verbirg dich im Gewölb des Frühgewölks
und in des Abends langem Schattenwurf,
am liebsten aber in der Nächte
hochherrlich ausgespannten Zelten.
Dort wanderst du allein mit deinem Schmerz
und schmückst die Erde ungestraft mit Lust,
aus deines Geistes grünen Körben
ein unerschöpflicher Verschwender.
An Sirmio 1
(Kartulls Ode)
Kaum glaub ichs noch! Katull, du bist daheim!
Daheim auf deinem lieben Sirmio!
Oh Sirmio, Sirmio, Kronjuwel Neptuns!
In allen Meeren, Strömen, Seen sucht
Deingleichen man umsonst: Kein Vorgebirg,
kein Halbeiland, kein Eiland kommt dir gleich!
Wie gern bin ich zu dir zurück geeilt!
Wie schön, die Sorg und all den fremden Kram,
der mir nichts ist, im Rücken weit, weit, weit,
am eignen Tisch, im eignen Bett zu ruhn!
Das ist doch noch ein Lohn nach so viel Plag!
Mein Zauber-Sirmio, freust du dich denn auch?
Und du, mein See, brandest du mir Willkomm?
Ja, alles lacht und ruft: Katull ist da!
Fußnoten
1 Sirmio (heute Sermione), Halbinsel im Süden des Gardasees, mit einer Villa des Katull.
Auf der piazza Benacense
(Riva am Gardasee)
Den Nacken hoch, Germane!
Diese Gassen
trat deines Ahns
geschienter Herrenfuß.
Hier eben, wo ich schreite,
schritt auch er,
geehrt vom Italer,
und seiner Weiber