Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch). Christian Morgenstern

Gesammelte Gedichte (851 Titel in einem Buch) - Christian  Morgenstern


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ihr schlaft!

       Ihr schlaft!

      Der Blick

       Inhaltsverzeichnis

      Mir gegenüber,

      dicht unterm Dach,

      sitzt ein Weib

      am geduckten Fenster

      und näht.

      Früh

      in das steigende Licht,

      spät

      in die fallende Nacht.

      Manchmal

      blickt es vom Schoße auf

      und verloren hinaus

      auf die Dächer –

      die Wolken –

      die Ewigkeit.

      Ich kann

      sein Auge nicht sehn,

      aber ich fühle den Blick –

      ich blicke ihn mit,

      den zehrenden Blick

      auf die Dächer –

      die Wolken –

      die Ewigkeit ...

      Der Wissende

       Inhaltsverzeichnis

      Wer einmal frei

      vom großen Wahn

      ins leere Aug

      der Sphinx geblickt,

      vergißt den Ernst

      des Irdischen

      aus Überernst

      und lächelt nur.

      Ein Spiel bedünkt

      ihn nun die Welt,

      ein Spiel er selbst

      und all sein Tun.

      Wohl läßt ers nicht

      und spielt es fort

      und treibt es zart

      und klug und kühn –

      doch lüftet ihr

      die Maske ihm:

      er blickt euch an

      und lächelt nur.

      Wer einmal frei

      vom großen Wahn

      ins leere Aug

      der Sphinx geblickt,

      verachtet stumm

      der Erde Weh,

      der Erde Lust,

      und lächelt nur.

      Das Auge Gottes

       Inhaltsverzeichnis

      Einst träumte mir das Auge Gottes,

      und Grausen überfiel mich.

      Entschürzt, entzaubert lag die Welt vor ihm,

      entwirrt, entblößt, bis in den letzten Winkel

      entheimlicht, nüchtern, reiz- und rätsellos.

      Nichts log ihm mehr.

      Der ahnungsvolle Rauch,

      den wir in Qual und Wonne Leben nennen,

      zerflatterte vor ihm, ward kalte Klarheit,

      Durchsichtigkeit, notwendige Verknüpfung.

      Die Blitz' und Donner der Gefühl' und Triebe,

      des Unbewußten herrlich jäher Sturm –

      Verhältnisse von Zahlen.

      Und mich fror.

      Graunvolle Ahnung grenzenloser Öde

      befiel mich.

      Und ich wünschte mir den Tod.

      Stimmungen vor Werken Michelangelos

      Der Abend

       Inhaltsverzeichnis

       (Grabmal des Lorenzo v.M.)

      Sah ich dich nicht schon einmal,

      lichtloser Sinnierer? ...

      Sah ich dich nicht schon

      viel vielemal? ...

      Wenn ich des Tages Straße

      hinabgegangen

      und im Dämmer,

      trauriger Träume schwer,

      saß und hinaus sann

      in Blut und Schatten

      und in die brechenden Blicke

      erstarrenden Lebens ...

      Lagst du da nicht

      am Wegrand,

      den Rücken

      am letzten Meilenstein,

      schwer-lässig den Leib

      ellbogengestützt,

      aus überernsten, verschatteten Augen

      über des Irdischen Wandel

      brütend? ...

      Warf ich mich da nicht

      vor dich hin

      und vergrub mich

      in deine Augen

      und ward mit dir eins

      und brütete selber

      aus ihren Höhlen

      hinaus in die Landschaft? ...

      Und dann sah ich

      noch einmal im Geist

      die langen Menschenzüge des Tags

      des Weges wallen,

      wie sie dem Goldtor des Morgens

      fröhlich entsprangen,

      Blumen im Haar

      und sorglosen Lachens voll;

      wie der und jener

      zu Staube dann glitt

      und immer mehr

      sanken, stürzten –

      bis endlich der heiße Mittag

      müdrastender Völker

      schläfrige Lager fand.

      Dann wieder Aufbruch,

      klingendes Spiel,

      neue Siege der Kraft,

      neue Opfer.

      Wohin zogen sie aus,

      die Morgenscharen?

      Wo winkt ihr Ziel?

      Wohin


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