ALTE WUNDEN (Black Shuck). Ian Graham
und Stühle steigen musste. Es galt zunächst, die wenigen Personen hinauszubringen, die bei ihm waren, um überhaupt erst daran denken zu können, andere zu bergen. Ihm fiel der Notausgang im Backstagebereich hinter dem Vorhang ein, also begab er sich nach links, als er die Bühne erreichte. Grauer Betonstaub haftete an dem blauen Seidenstoff, der hängen geblieben war.
»Ahhh!«
Erschrocken fuhr er mit dem Kopf herum, als ein Mann in flammenden Kleidern auf den Vorhang zugelaufen kam. Declan streifte hastig sein Jackett ab, sprang auf den Brennenden zu und stieß ihn um, damit er das Feuer ersticken konnte. Dann richtete er sich wieder auf, ließ das Jackett auf dem Verletzten liegen und kehrte zu den anderen zurück, die in seiner Abwesenheit stehen geblieben waren. Er hielt den Vorhang auf, um die drei Frauen und zwei Männer durchgehen zu lassen. Mehrere Überlebende hatten den Weg zum Notausgang bereits gefunden, dessen Tür offenstand. Declan beobachtete das Durcheinander; wie Krebse in einem Eimer grapschten sie nach einander, um möglichst schnell durch die verstopfte Öffnung zu gelangen.
»Aus dem Weg«, verlangte Declan und stieß einen Mann beiseite, der eine Frau vor sich festgehalten hatte, um sie von der Tür wegzuziehen und selbst hinauszulaufen. Ohne die Hand seiner Frau loszulassen, drängelte er sich bis an die Spitze des Auflaufs und drückte sie ins Freie. Schließlich drehte er sich um, breitete seine Arme weit aus, um den Ausgang zu versperren, und rief: »Ruhig! Stopp!«
Ein paar Gesichter vorne im Gemenge schauten zu ihm auf. »In Ordnung«, fuhr er fort. »Sie, raus!« Damit legte er Hand an einen Mann und stupste ihn durch den Rahmen. »Jetzt Sie!«, sagte er zu einer Frau, die in Griffweite stand, und half ihr nach draußen. Da er das Ganze noch mehrere Male wiederholte, schaffte er zusehends Platz vor der Tür, während die Übrigen gesittet nacheinander auf den kleinen Parkplatz hinausgingen.
Auf einmal riss jemand den Vorhang zur Bühne auf: Levi Levitt. Abidan Kafni war bei ihm. Der Leibwächter stützte seinen Boss, der sich augenscheinlich ein Bein verletzt hatte. Während sich die beiden der Tür nährten, kam ihnen Declan entgegen und nahm Kafnis freien Arm, um Levitt beim Stützen zu helfen.
Frische Abendluft und Regentropfen wehten ihm ins Gesicht, als er an Kafnis Seite nach draußen kam. Die Parkfläche hinter dem Gebäudeabschnitt, wo im echten Monticello die Bediensteten gewohnt hatten, war so lang und schmal wie der Ostflügel selbst. Da hier offensichtlich nur Fakultätsmitglieder ihre Autos abstellen durften, die auch im Barton Center arbeiteten, stand gerade nur ein einziger Wagen darauf: Ein schwarzer GMC-Suburban, den Declan sofort als Kafnis gepanzertes Auto erkannte. Sicherheitspersonal in blauen Uniformen kam um eine Gebäudeecke gelaufen und begann, sich den Verletzten zu widmen, die durch den Notausgang strömten.
»Bewegung, schnell«, drängte Declan mehrere Personen, die an dem Geländewagen lehnten. Levitt ließ Kafni los, um eine Hand in seine Hosentasche zu schieben und den Wagen per Fernbedienung zu entriegeln. Ein Mann öffnete eine Tür zur Rückbank und hielt sie auf, während Declan Kafni hineinhalf. Nachdem er sie selbst geschlossen hatte, sagte er zu Levitt: »Bringen Sie ihn in Sicherheit. Wo ist Ihre Unterkunft? Wir treffen uns dort!«
Der Leibwächter nickte und setzte sich hinters Steuer. »In der Briton-Adams-Villa an der Cottonwood Road«, gab er an und betätigte die Zündung, woraufhin die Bremslichter des Autos aufleuchteten – blendend hell im Dunkeln – und der Motor aufbrauste. »Wir haben drei Wachleute postiert; ich sage Ihnen, dass Sie kommen!«
»Alles klar, ich weiß, wo das ist. Wir fahren ein weißes Cabriolet!«, entgegnete Declan, bevor er die Fahrertür zuschlug.
Levitt rollte langsam vorwärts und hupte, wobei er darauf achtete, niemanden anzufahren, der aus dem Gebäude entkommen war. Declan schaute ihm hinterher, bis die Heckleuchten des Geländewagens auf dem einspurigen Fahrtweg verschwunden waren, die hinter dem Gebäude in Richtung Liberty Mountain verlief. Ein beklommenes Gefühl machte sich breit, als er sich nach Constance umdrehte.
Diese saß an der Mauer des Gebäudes und tröstete eine schluchzende Frau, die Verbrennungen an einem Arm erlitten hatte. Sirenengeheul näherte sich aus der Ferne. »Lass uns verschwinden«, bat Declan. »Wir müssen uns vergewissern, dass Kafni nichts passiert.«
Constance redete sanft auf die Verletzte ein – »Alles wird gut« –, kämpfte aber selbst mit den Tränen. Ein Mann in marineblauer Sicherheitsuniform kam zu den beiden und nahm sich der Frau an.
Declan streckte einen Arm aus und hielt Constances Hand fest, dann führte er sie zur nächsten Ecke des Gebäudes. Dort jedoch blieb sie abrupt stehen.
»Wo willst du hin?«, fragte sie gereizt. »Warum gehen wir von hier fort?«
Er konnte es nicht erklären, doch eine innere Stimme sagte ihm, dass, wer auch immer verantwortete, was gerade geschehen war, noch nicht fertig war. Bei Declan läuteten die Alarmglocken, auch weil er ahnte, dass es dieser jemand auf Kafni abgesehen hatte.
»Abe ist noch immer in Gefahr!«, antwortete er.
Constance gab nach und folgte ihm die Ostseite des Gebäudeflügels entlang. Als sie die Vorderseite des Komplexes erreichten und den großen Parkplatz sahen, schaute Declan nach links. Eine verbogene, brennende Karosserie war alles, was von dem weißen Ford Crown Victoria übrig geblieben war, der in der Nähe des Zeltes der Security vor der Eingangstreppe gestanden hatte. Declans Gedanken überschlugen sich auf dem Weg zu ihrem Auto. Da er sich hinlänglich mit Sprengkörpern und durch seine jahrelange Mitgliedschaft in der IRA insbesondere mit Autobomben auskannte, wusste er, dass die Explosion von jenem Wagen ausgegangen sein musste. Folglich konnte nur einer der Angestellten den Anschlag begangen haben.
Die tief am Himmel hängenden Wolken schillerten rot und blau von den Dachlichtern der Krankenwagen, die nun eintrafen, als Declan den Zündschlüssel des Nissan umdrehte, dessen Sechszylindermotor schnurrend ansprang. Beim Schalten zerrte er grob am Hebel, während er den Sportwagen vom Parkplatz auf die schmale Landstraße lenkte, die parallel am Barton Center vorbeiführte. Als das gelbrote Schwelen des brennenden Bauwerks hinter ihnen verblasste, schlug Constance ihre Hände vors Gesicht und fing an zu weinen. Declan fiel nichts ein, was er zu ihr sagen konnte. Die Scheinwerfer vertrieben die Dunkelheit vor ihm, doch er wurde das Gefühl nicht los, gerade den Zusammenprall zweier Welten erlebt zu haben, die ein Jahrzehnt lang friedlich nebeneinander existiert hatten.
Kapitel 7
18:56 Uhr, Eastern Standard Time – Freitag, Briton-Adams-Villa, Forest, Virginia
Vom Sicherheitsdienst Sweat angeheuert zu werden, um das Tor sowie die winzige Glasveranda zu besetzen, die zeitweilig als Wachhaus der Briton-Adams-Villa herhielt, war das Beste, was sich Chris Evans nach dem Verlust seiner Stelle im Stahlwerk von White Rock Intermet hatte erhoffen dürfen. Während der vergangenen drei Jahre war er wiederholt lange Zeit arbeitslos gewesen, nachdem die Fabrik, in der er 22 Jahre angestellt gewesen war, die Fertigung eingestellt hatte. Im gegenwärtigen Wirtschaftsklima stand ein 48-jähriger Vater dreier Kinder ohne Collegeabschluss nicht sonderlich weit oben auf der Liste gefragter Arbeitssuchender.
Nachdem er seine Füße auf den Schreibtisch aus Pressplatten gelegt hatte, schlug Chris eine Ausgabe der Lynchburg News & Advance auf und lehnte sich in dem schwarzen Büroledersessel zurück, den man aus dem Studierzimmer der Villa entwendet hatte. Das Gestell knarrte unter seinem 250 Pfund schweren Leib. Während er mit Zunge und Zahnstocher nach Speiseresten in seinem Mund fahndete, überflog er Seite Zwei. Sie wurde vollständig von Fotos des Neubaus an der Liberty-Universität und der Gäste eingenommen, die man zur abendlichen Einweihungsgala erwartete, was sein Interesse nur kurz weckte, bevor er zum Sportteil blätterte.
Seine Erfahrung als Militärpolizist bei den Reservisten des Marinekorps und ein sauberes Vorstrafenregister genügtem ihm zur Erfüllung der Grundqualifikationen für diese Tätigkeit, bei welcher er zu einem dreiköpfigen Team zur Absicherung des Anwesens gehörte, solange Abidan Kafni auf dem Grundstück weilte.
Die Briton-Adams-Villa war ein dreistöckiges Haus im Südstaatenstil mit Backsteinfassade, erbaut von einem betuchten Industriellen Ende der 1930er Jahre im Nordosten von Bedford County, Virginia. Nach seinem