Dr. Daniel Staffel 3 – Arztroman. Marie Francoise
keine großen Aktivitäten mehr, denn ihre Schwangerschaft neigte sich langsam dem Ende zu, und sie wollte nicht Gefahr laufen, daß sie die Klinik nicht rechtzeitig erreichen würde. Dr. Daniel sagte zwar, daß sie als Erstgebärende sicher viel Zeit hatte, wenn die Wehen einsetzten, trotzdem wollte Stefanie kein Risiko eingehen.
In den letzten Tagen hatte sie nur in Gerrits oder Wolfgangs Begleitung Spaziergänge unternommen, doch heute waren weder ihr Verlobter noch ihr Bruder für sie erreichbar. Gerrit hatte vorhin angerufen, daß er erst spät aus der Klinik kommen würde. Gerade war ein Notfall eingeliefert worden, und die Operation konnte sich durchaus in die Länge ziehen. Es hätte also keinen Sinn, wenn Stefanie mit dem Spaziergang auf Gerrit warten würde.
Langsam schlenderte sie den schmalen Weg entlang, der zum Waldsee führte. Sie war gerne hier. Der See barg so viele Erinnerungen. Hier hatte Gerrit sie zum ersten Mal geküßt. Stefanie lächelte verträumt bei dem Gedanken daran.
In diesem Moment zog sich ihr Bauch schmerzhaft zusammen. Stefanie stöhnte leise auf und griff haltsuchend an einen Baum. Der Schmerz wurde stärker, dann verklang er wieder.
»Ich glaube, es ist soweit«, murmelte sich Stefanie selbst zu. Ein paar Meter vor sich konnte sie den See sehen, und von hier zur Waldsee-Klinik war höchstens ein halber Kilometer zu bewältigen.
Stefanie hätte später nicht mehr sagen können, wie es passiert war. War es Nervosität, weil sich die Geburt ihres Babys plötzlich ankündigte, oder einfach nur Unachtsamkeit gewesen? Es gab wohl keine Antwort auf diese Frage. Stefanie stolperte jedenfalls über eine herausragende Wurzel und stürzte schwer. Ein stechender Schmerz fuhr in ihren rechten Knöchel, und sie hörte ein Knacken, von dem sie nicht wußte, ob es aus ihrem Fußgelenk oder von einem brechenden Ast gekommen war.
Stefanie wollte aufstehen, doch der wiederkehrende Wehenschmerz hinderte sie daran. Sie versuchte, sich an das zu erinnern, was sie in der Geburtsvorbereitung gelernt hatte. Tief in den Bauch hinein atmen sollte sie. Doch es gelang nicht. Ihr Bauch fühlte sich hart an, und er schmerzte so sehr, daß Stefanie das Gefühl hatte, als könnte sie es nicht länger ertragen.
Dann war die Wehe vorüber, und Stefanie versuchte erneut, sich zu erheben. Doch es ging nicht. Ihr Fußgelenk schmerzte schon bei der geringsten Bewegung. Mühsam kroch sie weiter, bis die nächste Wehe kam und sie buchstäblich festnagelte. Sie schrie auf vor Schmerz und Angst, doch wer sollte sie in dieser Abgeschiedenheit hören? Wenn nicht zufällig Spaziergänger vorbeikamen, dann war sie hier mutterseelenallein.
Durch die Bäume konnte Stefanie das strahlende Weiß des Klinikbaus schimmern sehen, doch in ihrem momentanen Zustand war der knappe Kilometer, der sie vom Krankenhaus trennte, eine unüberwindbare Strecke – noch dazu in dem unwegsamen Waldgelände, in dem sie sich jetzt befand.
»Hilfe!« Ihre Stimme überschlug sich beinahe. »Hilfe!«
Doch ihre Schreie verhallten ungehört.
*
Stefan Daniel erschien trotz aller Eile zehn Minuten zu spät zu der Nachtschicht, die Dr. Metzler ihm zur Strafe aufgebrummt hatte, doch der Chefarzt bemerkte es nicht. Und Martha Bergmeier, die als Sekretärin und Mädchen für alles in der Klinik arbeitete, erzählte Stefan dann auch sofort, daß Dr. Metzler und Dr. Scheibler noch immer den Notfall vom Nachmittag operierten.
»Da hab’ ich ja Glück gehabt«, meinte Stefan erleichtert. »Also, Frau Bergmeier, ich bin auf der Station, falls mich der Chefarzt sucht.«
»In Ordnung, Herr Dr. Daniel.«
Unwillkürlich erschrak Stefan bei dieser Anrede. Dr. Daniel war für ihn immer noch allein sein Vater, und obwohl er selbst nun auch schon seit geraumer Zeit den Doktortitel hatte, hatte er sich noch immer nicht so richtig daran ge-wöhnt, damit angesprochen zu werden.
Auf der Station war es ruhig. Die Patienten hatten längst zu Abend gegessen, die meisten lagen in ihren Betten und lasen, manche schliefen bereits, obwohl draußen erst die Dämmerung heraufzog.
Stefan betrat das Ärztezimmer, ließ die Tür aber offen, damit er gleich zur Stelle sein könnte, wenn er gebraucht wurde. Als er sich an den Schreibtisch setzen wollte, sah er, daß Dr. Metzler ihm für die Nachtschicht noch Arbeit hergerichtet hatte.
»Er hat anscheinend Angst, daß ich vor Langeweile einschlafen könnte«, grummelte Stefan. Normalerweise mochte er Wolfgang sehr gern, er war sogar Stefans großes Vorbild, doch heute regten sich beim Gedanken an den Chefarzt nicht gerade freundliche Gefühle in ihm. Die Standpauke, die er über sich hatte ergehen lassen müssen, saß noch zu tief. Dazu kamen der Streit mit Rabea und ihre Vorwürfe, die ihn mitten ins Herz getroffen hatten.
Ein zaghaftes Klopfen an der Tür riß Stefan aus seinen Gedanken. Er blickte auf und direkt in das faltige Gesicht eines Patienten, der wegen eines Bandscheibenvorfalls in der Klinik war.
»Guten Abend, Herr Reiser«, begrüßte Stefan ihn freundlich, aber mit gewisser Besorgnis in der Stimme. »Haben Sie Schmerzen?«
Egon Reiser schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Doktor, aber… ich hätte eine Bitte an Sie. Der Abend ist noch so schön. Ich würde gern ein bißchen in den Park hinuntergehen. Aber wegen meiner Gehbehinderung… Sie wissen schon, die alte Kriegsverletzung…« Verlegen rieb er sich das Kinn. »Würden Sie mich wohl zu der Bank am Waldsee begleiten?«
Stefan kämpfte mit sich. »Das darf ich eigentlich nicht, Herr Reiser. Wissen Sie, ich habe Nachtschicht, und wenn etwas passiert, während ich weg bin…« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Andererseits… es sind ja nur ein paar Minuten.«
»Ich hätte Sie auch gar nicht belästigt, Herr Doktor«, beteuerte Egon Reiser. »Aber ich kann Schwester Irmgard nirgends finden, und wenn ich noch länger warte, dann lohnt es sich ja gar nicht mehr.«
Stefan nickte. »Das verstehe ich schon, Herr Reiser. Die Nachtschwester ist sicher nur rasch in die Gynäkologie hinübergegangen. Ich hinterlasse ihr eine kurze Nachricht, dann können wir gehen. Schwester Irmgard wird Sie dann in einer Stunde wieder holen. Ist das recht?«
Das Gesicht des alten Mannes strahlte. »Ja, Herr Doktor, das ist prima. Überhaupt sind hier alle so nett. Ich bin ja so froh, daß mich Frau Dr. Carisi hierher überwiesen hat. Eine gute Ärztin… ganz anders als der alte Dr. Gärtner.«
Egon Reiser plauderte weiter vor sich hin, während er mit Stefans Hilfe die Treppe hinunterging.
Wenn Wolfgang mich erwischt, dann kann ich mein Testament machen, ging es Stefan derweil durch den Kopf, und er hoffte inständig, daß der Chefarzt noch eine Weile im Operationssaal festgehalten werden würde.
Egon Reiser ahnte nicht, wie gewagt dieses Unternehmen für Stefan war. Schön langsam, um seinen Rücken nicht zu überanstrengen und auch die Schmerzen im rechten Bein so gering wie möglich zu halten, ging er durch den Park auf den Waldsee zu und erzählte dabei unaufhörlich irgendwelche Geschichten aus seinem langen, ereignisreichen Leben. Stefan kannte den Patienten gut genug, um zu wissen, daß er sein mangelndes Interesse an diesen Geschichten nicht bemerken würde. Er sehnte die Bank herbei, an der er Egon Reiser absetzen konnte, und dann mußte er schauen, daß er schnellstens in die Klinik zurückkäme.
In diesem Moment hörte Stefan den Hilfeschrei.
»Hat da nicht jemand gerufen?« fragte Egon Reiser mit gerunzelter Stirn. Er war gerade bei seinen Erlebnissen aus dem Krieg angelangt, und da kam es gelegentlich schon vor, daß er etwas hörte, was gar nicht da war. Meistens war es das Surren von Granaten oder das Jaulen von Sirenen. Einen Hilfeschrei hatte er in seiner Phantasie aber noch nie gehört.
»Schaffen Sie die wenigen Schritte bis zur Bank auch allein?« fragte Stefan hastig. »Ich glaube, ich werde da hinten irgendwo gebraucht.«
»Selbstverständlich, Herr Doktor«, versicherte Egon Reiser, während Stefan schon loslief, um nachzuschauen, wer da um Hilfe rief.
»Hallo! Wo sind Sie?«
»Hier!« erklang die weibliche Stimme. »Ein paar Meter rechts vom Waldsee.«
Stefan wandte