Der Occultismus des Altertums. Karl Kiesewetter
gelockt wurden, worauf man aus ihrem Verhalten orakelte; das Gleiche war nach Varro[69] auch in Lydien der Fall. Auch dürften die in einem Teiche beim Tempel des Zeus Labrandeus zu Mylasa in Karien gezüchteten Fische, welche Ohrgehänge an den Kiemen trugen, zu Wahrsagezwecken gehalten worden sein, wie ferner die zu Ehren der Göttin Atargatis oder Derketo zu Askalon gezüchteten, wo bekanntlich ein dem babylonischen verwandter Kultus herrschte.
Auch war die chaldäische Mantik bemüht, aus spontanen Bewegungen oder Tönen von Hausgeräten und Möbeln wahrzusagen, und es ist ein Fragment erhalten, welches eine ganze Reihe von hölzernen Möbeln und Teilen des Hauses nennt, aus denen prophetische Laute hervortönen (assaput, ku-a), „geeignet, das Menschenherz fröhlich zu stimmen“. Die einzelnen Deutungen sind jedoch verloren gegangen. Ich habe schon oft darauf hingewiesen, daß wir es hier wohl mit den Anfängen des Tischklopfens und Tischrückens zu thun haben.
Auch zufällig gehörten Worten wurde prophetische Bedeutung beigelegt; es sind dies die von den Juden bath-kol genannten Stimmen.
Hingegen läßt sich im Sargonschen Auguralwerk nicht die Ausübung der im Buche Hiob erwähnten Chiromantie, der Onychomantie sowie der Kranioskopie nachweisen.
Die Beschäftigung der Chaldäer mit der Astrologie brachte es mit sich, daß sie den Mißgeburten große Aufmerksamkeit zuwendeten. Nach ihren Behauptungen rechtfertigten 470 000 jahrelang angestellte Beobachtungen die Annahme, daß der bei der Geburt eines Menschen vorhandene Sternenstand dessen Geschick bestimmen. Da aber Gebrechen und Mißgestaltungen neugeborener Kinder ebenfalls von diesem Sternenstand abhängig seien, so lasse sich aus Mißgeburten ebenso gut die Zukunft entschleiern als aus den Sternen selbst.[70] Deshalb legte man den Mißgeburten eine ungeheuere Wichtigkeit bei und behandelte deren Deutung sehr ausführlich in dem Sargonschen Auguralwerk. Von den 72 diesbezüglichen Texten, welche Lenormant beibringt, will ich nur folgenden anführen, welcher beweist, daß man schon in jener altersgrauen Vorzeit der „Glückshaube“ eines neugeborenen Kindes eine ebenso große Wichtigkeit beilegte als heute:
„Gebiert eine Frau ein Kind,
dessen Haupt mit einer Haube bedeckt ist, so wird beim Anblick desselben ein
günstiges Vorzeichen im Hause walten.“
Namentlich wurde den Mißgeburten fürstlicher Frauen große Bedeutung beigelegt, und auch die Mißgeburten mancher Tiere – wie z. B. der Stuten – galten als besonders ominös.
Der Glaube an die Vorbedeutung der Portenta ging auf Etrusker und Römer über, und noch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts schrieb Caspar Schott De mirabilibus portentorum.
Mit die wichtigste Rolle im chaldäischen Divinationswesen spielt die Traumdeutung. Nach Diodorus Siculus rechneten die Chaldäer die Träume zu den tellurischen Vorzeichen und deuteten sie nach den Vorschriften des Sargonschen Auguralwerks. Ein Fragment desselben lautet[71]:
„Sieht einer im Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Einen männlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Gestalt eines Hundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Gestalt eines Bären mit den Füßen eines . . . . . . . . . . .
Das Vordertheil eines Bären mit den Füßen eines . . . . . . . . .
Die Gestalt eines Hundes mit den Füßen eines andern Thiers . . . .
Einen todten Hund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Den Gott Nin-kistu (Nergal) todtschlagen . . . . . . . . . . . . .
Leichen großer Thiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ein Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Einen Mann auf sich harnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .“
Das Urinlassen als Traumsymbol dünkte den Chaldäern ganz besonders wichtig und wird auch noch von einem Weib, Bären, Hunde usw. angeführt. Herodot berichtet bekanntlich von einem hierhergehörigen Traum des Astyages, dessen Tochter Mandane auf diese Weise ganz Asien überschwemmte und so die Herrschaft des Cyrus prognostizierte.
Von den Kapiteln des Auguralwerkes scheint besonders das von der Traumdeutung gehandelt zu haben, dessen Anfang lautet:
„Ein Traum von hellem Schein, das Land in Feuer . . . .
Ein Traum von hellem Schein, die Stadt in Flammen . . .“
Bekanntlich spielen Träume von Feuer und Flammen noch in der modernen Traumdeutung eine große Rolle.
Nach Jamblichus begaben sich die babylonischen Frauen absichtlich in den Tempel der Zirpanit oder Aphrodite, um divinatorische Träume zu erhalten, welche sie sofort von den Traumdeutern auslegen ließen. Bekanntlich wurde dieser incubatio oder ὲγκοίμησισ genannte Brauch auch in Ägypten oder Griechenland ausgeübt.
In Chaldäa und wahrscheinlich auch in Assyrien, da ja die Assyrier in diesen Dingen nur die Schüler und Nachbeter der Chaldäer waren, gab es nach den Keilschrifttexten Seher (sabru), welchen die Götter vorzugsweise prophetische Träume zu Teil werden ließen. Derartige Seher und Seherinnen scheint es, wie die oben mitgeteilte Nachricht Herodots vom Tempel zu Borsippa andeutet, in manchen Tempeln ständig gegeben zu haben. – Zweifellos wurden bei den Chaldäern prophetische Träume auch durch narkotische Mittel hervorgerufen wie bei andern Völkern des Altertums und noch bei vielen wilden Völkerschaften.
Der Eingang des obersten – siebenten – Stockwerks des Turmes von Borsippa war dem Gott Nebo (Prophet) geweiht und hieß bab assaput, „Thor des Orakels“. Ein ähnliches Orakelgemach, bil assaput, existierte noch nach inschriftlichen Angaben in der Pyramide des königlichen Stadtviertels zu Babylon. Ob jedoch die Art und Weise, wie die Orakel in diesem erteilt wurden, die gleiche war wie im Turme von Borsippa, ist aus den Inschriften nicht ersichtlich. Gewiß ist nur, daß dieses Gemach als Grabkammer des Bel-Maruduk galt, was vermuten läßt, daß daselbst Incubation stattfand, weil man im Altertum häufig Grabstätten aufsuchte, um in ihnen prophetische Träume zu erhalten. Auch ist bekannt, daß das Orakel des Belus oder Bel-Maruduk in der Geschichte Alexanders des Großen insofern eine Rolle spielt, als die Chaldäer den siegreichen Eroberer im Namen dieses Heiligtums zu bestimmen suchten, von Babylon fern zu bleiben. Allerdings blieb dieser Versuch erfolglos, weil Alexander die egoistischen Beweggründe der Chaldäer wohl erkannte.
Das Gebet, welches Incubation im Grab des Bel-Maruduk einleitete, ist teilweise erhalten und enthält folgende charakteristische Stellen:
„Gewähre mir den Eintritt, daß mir ein Glückstraum zu Theil werde!
Der Traum, den ich träume, daß er günstig sei!
Der Traum, den ich träumen werde, daß er wahrhaft sei!
Der Traum, den ich träumen werde, laß ihn ausfallen zu meinen Gunsten!
Makhir, der Traumgott, möge walten über meinem Haupt!
Gewähre mir Eintritt in den E-saggal, in das Götterschloß, den Wohnsitz des Herrn!
Auf daß ich mich nähere Maruduk, dem Erbarmer, dem Glückspender und den gesegneten Händen seiner Allmacht!
Möge ich rühmen können deine Größe, lobpreisen deine Gottheit!
Mögen die Bewohner meiner Stadt rühmen können deine Werke!“
In der Zeit vom 8. bis 6. Jahrhundert erreichte die Traumdeutung ihren Höhepunkt in Vorderasien und Ägypten, woselbst sie sogar die Politik und Kriegsführung beeinflußte. Durch einen siegverheißenden Traum wurde Assurbanhabal zum Kriege gegen Te-Umman angeregt, und durch Träume wurde mehrfach sein Heer zur Ausdauer ermuntert. Ein Traum bewog Gyges zur Anerkennung der assyrischen Oberherrschaft. Träume waren es, welche Krösus den Tod seines Sohnes Atys, Astyages die Herrschaft seines Enkels und Cyrus die des Darius verkündeten. Ein Traum führte Sebek, König von Ägypten, zum Entschluß, seine Regierung niederzulegen; auch war es wiederum ein Traum, welcher dem König Seti die endliche Vernichtung des assyrischen Heeres unter Senacherib