Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild. Gustav von Bodelschwingh
überfahren zu werden, nahm ich es bei der Hand und führte es herunter, zum großen Jubel des zuschauenden Publikums.
Am folgenden Tage stand das ganze Gardekorps teils auf dem Schloßplatz, teils auf dem Opernplatz in Parade, und ich erinnere mich noch deutlich, wie ich des Königs Stimme selbst vernahm, als er laut rief: „Achtung!”, ihm nach dann die Generale: „Achtung!” und so herunter bis zu unserm Regimentskommandeur immer eine Stimme nach der andern: „Achtung!” und dann: „Präsentiert das Gewehr!” In demselben Augenblick fiel der Vorhang vom Denkmal des alten Fritz, und 101 Kanonenschüsse donnerten zum Zeichen, daß des großen Königs Andenken erneuert worden war, und in begeisterter Stimmung marschierten wir im Paradeschritt vor des Königs und sämtlicher Prinzen und Prinzessinnen Augen an dem Denkmal vorüber und die Linden hinunter.
Kurze Zeit danach hatten wir am Kreuzberg unser großes Feldmanöver zu Ehren des russischen Feldmarschalls Paskewitsch. Dieses Manöver war nach Gottes Führen und Regieren für meinen ganzen Lebensweg von Entscheidung. Es war ein heißer Tag. Nach längeren, scharfen Bewegungen, zum Teil im Laufschritt, hieß es plötzlich auf dem weiten zugigen Felde: „Halt! Gewehr ab!” Da standen wir. Von der Stunde ab fühlte ich mich nicht wohl, ohne daß jedoch sofort eine Krankheit ausgebrochen wäre. In meinem jugendlichen Trotz wollte ich nicht nachgeben und machte an den folgenden Tagen noch die Felddienstübungen mit. Aber es wurde mir immer saurer, und ich litt an Atemnot. Die Atemnot glaubte ich am besten durch kräftige Anstrengungen der Lunge überwinden zu können. Es war gerade damals ein köstliches Wellenbad in Moabit eingerichtet, wo ich gern mit meinen Kameraden badete. Ich gewann noch eine Wette beim Schwimmen, aber damit war auch meine Kraft zu Ende. Ich mußte mich revierkrank melden, da ich keine Kraft mehr zum Marschieren hatte und mein Atem immer kürzer wurde.
Zwei Tage lag ich recht elend auf meiner einsamen Stube in der Klosterstraße, von meinen guten jüdischen Wirtsleuten gepflegt. Da besuchte mich mein Freund, Gustav Bossart, den ich sehr vernachlässigt hatte, und bewies sich nun recht als Helfer in der Not. Er brachte die Nacht an meinem Bette zu und schaffte mich dann, da er sah, wie ernst die Sache wurde, in das Militärlazarett in der Grünen Straße, wo ich mit zwei andern Freiwilligen, zu denen zu meiner großen Freude mein lieber Schäferssohn gehörte, ein Zimmer teilte. Der Bataillonsarzt erkannte die Krankheit nicht sogleich; als aber der Regimentsarzt kam, sagte er sofort: „Hier will ich Blut sehen”, d. h. ich sollte zur Ader gelassen werden. Der junge Militärarzt hatte noch wenig Übung in der Kunst des Aderlassens; darum floß wohl dreimal so viel Blut, als der Arzt bestimmt hatte. Es mochte aber so Gottes Wille sein zur Rettung meines Lebens. Denn es zeigte das Blut einen hohen Grad von Lungenentzündung, sodaß ich am nächsten Tage trotz des starken Blutverlustes noch einmal zur Ader gelassen wurde.
Die Lungenentzündung war mit einer Entzündung des Rippenfells verbunden, und es folgten nun dunkle Fieberstunden, die mich fast drei Tage lang ohne Besinnung ließen. Doch waren die Fieberphantasien meist freundlicher Art. Es ist mir darin etwas von dem klar geworden, was Paulus erfahren hat: „Außer dem Leibe wandeln”. 2. Kor. 12, 2. Es war mir nämlich so, als ob ich selbst die Schmerzen gar nicht mehr erlitte, die mein armer Leib zu tragen hatte. Ich sah in der Nacht, als meine Krankheit auf dem Höhepunkt war, einen Menschen, in welchem ich mich selbst erkannte, auf einem hohen Berggrat liegen. Die eine Hälfte des Menschen war ganz ein Eisklumpen, die andere stand in rotglühender Hitze. Zunächst nämlich war nur die eine Hälfte meiner Lunge entzündet. Dies war die Seite, die ich in der Gluthitze schaute. Ich konnte den Menschen in seiner Qual bedauern, während ich mich selbst ganz wohl fühlte.
Übrigens war meine Pflege jämmerlich. Der gute flachsköpfige Soldat, der bei mir Nachtwache halten sollte, schlief die ganze Nacht durch, und meine Bitte um einen Schluck frischen Wassers zur Linderung der Gluthitze blieb vergeblich. Nur mein Freund Bossart saß tagsüber öfter an meinem Bett. Eines Morgens aber, als ich eben aus einem kurzen Fieberschlummer aufwachte, saß statt seiner mein guter Vater da. Gerade in den ersten Tagen meiner Krankheit war des Vaters Bruder Karl, mein späterer Schwiegervater, als Minister nach Berlin versetzt worden. Er hatte mich zum Mittagessen eingeladen, und als statt meiner die Nachricht kam, daß ich krank im Lazarett läge, hatte er meinen Vater benachrichtigt. Der Vater blieb drei bis vier Tage bei mir, bis ihn die liebe Mutter ablöste, die freilich die Pflege besser verstand als die Lazarettgehilfen, zumal sie ja den Vater so oft in der Lungenentzündung gepflegt hatte.
Die Krankheit ging aber nicht so schnell vorüber. Durch den übermäßigen Blutverlust bei den beiden Aderlässen war eine Art Wassersucht eingetreten, zu der dann noch ein typhöser Zustand hinzukam. Doch erinnere ich mich noch mit Freuden daran, wie mich einmal ein starker Grenadier auf die Arme nahm und die drei Treppen hinunter in den Garten trug, wie er mich in einen Lehnstuhl, der zwischen blühenden Blumen auf dem Rasenplatz stand, legte und wie mich dann ein Gefühl des Dankes und der Freude über meine Genesung ergriff. Einige Wochen später wurde ich zu meinem Onkel ins Finanzministerium transportiert. Hier bekam ich mein Quartier in dem schönen Gartensaal, wo wir als Kinder so glücklich gewesen waren. Nach fünf Wochen hatte sich die Kraft so weit eingestellt, daß ich die Reise in die Heimat antreten konnte.
Diese ernste Krankheit blieb mir ein Zeichen der Erbarmung und Freundlichkeit meines Gottes. Ich hatte ihn öfter gebeten, wenn er sähe, daß die große Stadt mit ihren Versuchungen mir gefährlich werden würde, dann möge er mich selbst hinausführen an seiner Hand. Ich konnte seine Gnadenführung deutlich erkennen. Namentlich die ersten beiden Tage im Lazarett, ehe ich die Besinnung verlor, hatten einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Ich lag ja mit den beiden Freiwilligen auf dem Krankenzimmer und zwar zwischen beiden. Der eine, der Schäferssohn aus Pommern, auch an der Brust leidend wie ich, wenn auch nicht gerade an Lungenentzündung, war freundlich, dankbar, still, ergeben, voll Lied und Lobgesang im Herzen. Der andere, ein junger Kaufmannssohn aus Elberfeld, infolge seines leichtsinnigen Lebens erkrankt, war beständig am Schimpfen und Fluchen, worüber er von meinem Nachbarn zur Linken mit großer Offenheit gestraft wurde. Als meine Krankheit zu schwer wurde, bekam ich ein Zimmer allein. Von meinen beiden Leidensgefährten habe ich nie wieder etwas gehört, aber der Eindruck blieb mir, was es doch für ein Unterschied sei zwischen einem gottlosen Menschen und einem Kinde Gottes.
Weil meine Krankheit einen chronischen Charakter annahm, so hatte ich, als ich in die Heimat reiste, einen langen Urlaub bekommen. Aber auch jetzt wollten sich die alten Kräfte nicht so schnell wieder einstellen. Als ich mich darum nach abgelaufenem Urlaub bei dem alten Regimentsarzt stellte, erklärte mich dieser für dauernd dienstuntauglich. Doch bekam ich meine definitive Entlassung erst neun Monate nach meinem Diensteintritt und zwar, wie es in meinen Militärpapieren hieß, „als ein mit der Muskete ausgebildeter Halbinvalide”.
Als Landwirt in Pommern. 1852–1854.
„Nun war guter Rat teuer. Was sollte weiter aus mir werden? Als ich von dem alten Doktor wieder auf die Straße kam und der Droschkenkutscher mich fragte, wohin er fahren solle, sagte ich zu ihm, das wisse ich selbst nicht. Er möge fahren, wohin er Lust hätte. So fuhr er mich auf die nahegelegene Post, und ich entschloß mich flink, da die Postpferde gerade angespannt wurden, um nach Luckau zu fahren, einen kleinen Abstecher zu meinem Freunde Ernst von Senfft zu machen, der damals auf dem Hauptgute des alten Herrn Koppe in die Lehre getreten war.
Ernst von Senfft war in der Berliner Zeit, wo wir zusammen das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium besuchten, mein nächster Freund geworden und seitdem auch geblieben. Die Freundschaft zu ihm war mit ein Grund gewesen, weshalb ich den landwirtschaftlichen Beruf ergriffen hatte, in der Hoffnung, mit ihm gemeinsam landwirtschaftliche Studien treiben zu können. Während der Schülerzeit hatte ich von Berlin aus meinen Freund einige Male auf das Gut seines Vaters, Gramenz in Hinterpommern, begleitet, und es bestand ursprünglich die Absicht, daß wir dort gemeinsam unsere erste landwirtschaftliche Lehrzeit zubringen sollten. Aber gerade als wir diesen Plan in die Wirklichkeit umsetzen wollten, wurde mein Freund berufen, den Prinzen Friedrich Wilhelm (unseren späteren Kronprinzen und Kaiser) nach Bonn auf die Universität zu begleiten. Auf diese Weise waren wir auseinander gekommen und freuten uns nun um so mehr des Wiedersehens.
Ich brachte einige schöne, stille Wochen mit meinem Freund zusammen zu und lernte zugleich bei dem originellen alten Koppe manches, was ich im Oderbruch nicht