Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild. Gustav von Bodelschwingh
Zusammenseins traf eine Einladung des Vaters meines Freundes ein. Dessen Berufung als Oberpräsident von Pommern stand bevor. So konnte er sich wenig um seinen Besitz kümmern und forderte uns auf, daß wir im kommenden Frühling gemeinsam unsere bisher in der Landwirtschaft erworbenen Kenntnisse auf den Gütern in Hinterpommern verwerten sollten. Da die Ärzte vor der Hand bei dem Zustand meiner Lunge ein wissenschaftliches Studium nicht für geraten hielten, so willigte mein Vater ein.
Um mich auf meine Tätigkeit noch weiter vorzubereiten, folgte ich der Anregung eines andern Freundes, den ich in Kienitz kennen gelernt hatte, und ging zu dessen Bruder Franz Bieler nach Machern bei Friedeberg, einem trefflichen Landwirt, in dessen Hause ich viele Freundlichkeit und Förderung genoß.
In den ersten Tagen des April 1852 langte ich zugleich mit meinem Freunde Ernst in Gramenz an. Wir bezogen miteinander das Vorwerk Raffenberg, eine halbe Stunde von dem Hauptgute Gramenz entfernt. Raffenberg sollte von meinem Freunde Ernst bewirtschaftet werden, während mir zunächst die beiden andern Güter, Schoffhütten und Zechendorf, zugeteilt wurden, die ich von Raffenberg aus inspizieren sollte.
Der alte Herr von Senfft hatte Gramenz in den dreißiger Jahren für 60 000 Taler erworben. Er hätte bei diesem günstigen Ankauf ein sorgenfreies Leben führen können, denn das Hauptgut, das für sich allein 500 Morgen groß war, besaß sehr alte fruchtbare Ländereien und war darum recht wertvoll. Allein der rastlose Geist des alten Herrn war darauf gerichtet, alles unbebaute Land urbar zu machen. Um das dafür nötige Vieh halten zu können, legte er großartige Rieselwiesen an, zu deren Bewässerung das Wasser in drei großen Bassins durch aufgeführte Dämme gesammelt wurde. Allein diese Anlage, die Hunderttausende verschlang, brachte den gewünschten und erhofften Ertrag nicht, zumal gleichzeitig über 100 verschiedene Häuser gebaut wurden, sowohl für die wirtschaftlichen Zweige als für die Tagelöhner. Die Wasser des pommerschen Landrückens waren zu arm und darum der Ertrag der Wiesen zu gering. Infolgedessen befand sich der alte Herr beständig in den drückendsten Sorgen. Da sollten wir jungen Leute nun raten und helfen, und die Hoffnung, die er auf uns setzte, ging dahin, daß binnen kurzem alle Sorgen von ihm genommen sein würden.
Immerhin war, äußerlich angesehen, Gramenz ein prachtvoller Besitz, zwei Meilen (15 Kilometer) lang, eine halbe Meile (3 bis 4 Kilometer) breit, von rieselnden Bächen und anmutigen Tälern durchzogen und an seinem Rande von lieblichen Seen umgeben, die mit Buchenwald eingefaßt waren. Was aber die Hauptsache war, um den Aufenthalt für mich segensreicher zu machen als meine drei letzten landwirtschaftlichen Orte Kienitz, Wollup und Machern: es bestand von alter Zeit her ein kirchlicher Sinn in der Gemeinde, und der Pfarrer Diekmann meinte es sehr treu. In der aufs freundlichste ausgestatteten Dorfkirche wurden erquickende Gottesdienste gehalten, zu denen wir uns regelmäßig Sonntags einfanden.
Wir beiden jungen Leute führten auf unserem Vorwerk ein eigenartiges Junggesellenleben. Die Schäfersfrau besorgte uns unsere Küche. Wir hatten jeder unser Reitpferd. Das meines Freundes hieß Soliman, meins Dido. Ich hatte es bald so gewöhnt, daß es, wenn es auf der Weide ging, auf einen Pfiff herankam und ich ihm bloß die Gerte, die ich in der Hand hatte, ins Maul zu legen brauchte. Dann ließ es sich ungesattelt in allen Gangarten reiten, indem ich es mit der Gerte, deren beide Enden ich gefaßt hatte, lenkte.
Wir beiden Freunde sahen uns gewöhnlich nur morgens und abends, gönnten uns aber doch bisweilen in einer trauten Einsamkeit an irgend einem Bachufer ein Ruhestündchen, um unsere klassischen Studien fortzusetzen. Unsere Freundschaft war sehr innig, auch in bezug auf die äußeren Dinge. Wir waren beide genau gleich groß, sodaß uns unser Zeug gegenseitig paßte. So hielten wir denn auf völlige Gütergemeinschaft, und jeder schaffte nach seinen Mitteln etwas in den gemeinsamen Kleiderschrank an, wobei man mit Vorliebe das anzog, was der andere angeschafft hatte.
So scharf und heiß unsere Arbeit meist den Tag über war, so fehlte es doch auch nicht an Erquickungen. Abends ritten wir oft auf unsern schnellen englischen Vollblutpferden nach dem nur eine Meile entfernten Buchwald hinüber, wo die älteste Schwester meines Freundes an einen Herrn von Glasenap verheiratet war und wo damals ein liebliches Familienleben aufblühte. Glasenaps hatten sich am Ufer eines Sees ein gar freundliches Landhaus gebaut. In den schönen Sommernächten fuhren wir oft noch spät unter fröhlichen Liedern auf dem See, nachdem wir vorher ein erfrischendes Bad genommen hatten. Auch in Gramenz selbst, ehe der alte Herr nach Stettin übersiedelte, gab es in dem lieben Familienkreise manche freundliche Stunde.
Übrigens merkten wir beide, Ernst und ich, bald, daß die Sachen nicht standen, wie sie stehen sollten. Waren in den früheren Jahren große Fehler begangen, indem man zu große Flächen Wald urbar machte und stattliche Gehöfte auf ihnen aufrichtete, ohne die nötigen Mittel zu haben, um das urbar gemachte Land auch ertragfähig zu machen, so war es neuerdings ein besonders schwerer Mißgriff gewesen, daß man sich auf englische Pferdezucht und gar auf Trainierung kostbarer Rennpferde eingelassen hatte. Vor allem aber hatte der liebe alte Landesökonomierat Koppe, der sonst der kundigste Ratgeber war, den man hätte finden können, seinem Freunde Senfft geraten, eine große Zuckerfabrik zu bauen. Doch für den Zuckerrübenbau waren viele Flächen noch zu jung und zu arm.
Noch schlimmer war es, daß der alte Herr von Senfft nicht nachließ, seinen Pächtern immer neue Flächen zu entziehen in der Meinung, dadurch, daß er das Pachtland in eigene Bewirtschaftung übernahm, besser abzuschneiden. Der Sohn war hierin mit seinem Vater gar nicht einverstanden. In seiner romantischen Art konnte er wohl, wenn wir abends über einen der kleinen mit Eichen umstandenen Pachthöfe ritten, unter einer der alten Eichen still halten und sich dann in die Seele solch eines alten vertriebenen Erbpächters hineinzudenken, wie er seine mit ihm ausgetriebenen und zu Tagelöhnern hinuntergesunkenen und hinuntergestoßenen Leidensgefährten versammelte, um ihnen eine Rede zu halten, in der er sie zum Aufruhr gegen ihren Bedränger aufforderte, der sie von ihrem väterlichen Herd verstoßen und sie, voll unersättlicher Gier nach erweiterten Grenzen, aus dem Schatten ihrer alten Eichen verdrängt habe.
Der alte Senfft war in der Tat einer der wunderbarsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe. Schärfere Widersprüche können kaum in ein und demselben Herzen angetroffen werden. Voll inniger, ungeheuchelter Frömmigkeit, sich seines Heilands niemals schämend, auch am Hofe des Königs nicht, für seine eigene Person mit dem Geringsten zufrieden, ja, ängstlich sparsam, ohne jeden Adelsstolz, hatte er doch auf der andern Seite Eigenschaften, die einem geraden Charakter, wie z. B. meinem Vater, unbeschreiblich schwer waren. Er liebte heimliche Wege, um zu seinen Zielen zu gelangen, und ließ sich niemals hinter seine Geheimnisse schauen. Das schwerste aber war uns Jungen seine Landgier. Diese besondere Gier verschloß ihm die Augen gegen manche furchtbare Härte, ohne die die bisherigen Pächter sich nicht aus ihren alten Wohnstätten vertreiben ließen.
Dazu kam, daß er in der Bewirtschaftung seiner Güter vielfach Unmögliches forderte und darum von seinen Beamten, von deren Vortrefflichkeit er oft geradezu kindliche Ansichten hatte, vielfach hintergangen wurde. Unter solchen schwierigen Umständen, in die sein Sohn und ich ahnungslos hineinversetzt waren, konnte es wohl vorkommen, daß wir zueinander sagten: „Wir müssen beten, sonst sind wir verloren.” So schwer legte sich mitten unter allerlei Knabenscherzen die große Sorge auf unser Herz.”
Einige Wochen nach seiner Ankunft in Gramenz schrieb der junge Inspektor Bodelschwingh seinem Vater:
Raffenberg bei Gramenz, Himmelfahrtstag 1852.
Lieber Vater!
Sei nicht böse, daß ich Dich so lange auf einen vernünftigen Brief habe warten lassen. Die unerwartete Bedeutsamkeit und Ausgedehntheit meiner hiesigen Stellung hat mich bis jetzt bei einer steten aufgeregten Tätigkeit kaum zur Besinnung kommen lassen. Die Feiertage selbst waren bis jetzt teils durch notgedrungenes langes Schlafen, regelmäßigen Kirchenbesuch und gezwungenen Gramenzer Familienaufenthalt, teils mit weitläufigem Rechnungswesen und reformatorischen Beratungen so ausgefüllt, daß ich bis jetzt vergeblich nach einer ruhigen Stunde gespäht habe, die mir nun endlich ein feierlich schöner Himmelfahrtsabend freundlich gewährt.
Zuerst will ich nur gleich vorausschicken, daß unter allen Wohltaten, für die ich dem lieben Gott Dank schuldig bin, kaum eine mir größer erscheint, als daß er mich hierher geführt hat. Ich muß wirklich meine hiesige Stellung nach