Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild. Gustav von Bodelschwingh
hatte da, wo ihre beiden Knoten waren, zwei Löcher zu graben, den Samen hineinzulegen, wieder zuzuscharren und mit dem Fuß daraufzutreten. An den beiden Enden der langen Schnur aber standen zwei Leute mit dem Hopser. Diese riefen jedesmal, wenn die Schnur weiterrückte, „Hopp”. Auf solche Weise mußten 700 Morgen mit Samen belegt werden — eine Arbeit, die die größte Sorgfalt erforderte. Es galt aufzupassen, daß keine der Samenlegerinnen zurückblieb und keine unordentliche Arbeit machte. Die größte Freude machte es mir, in den langen, langen Streifen die kleinen Rüben regelmäßig aufgehen zu sehen, und der Kummer war groß, wenn irgendwo schlecht gearbeitet worden war. Hatte man sich die Reihenfolge der einzelnen Legerinnen aufgeschrieben, so konnte man noch nach Wochen wissen, an wem die Schuld lag. Dann kam das Verhacken und Verziehen und abermalige Verhacken der Rüben. Vierzehn Wochen habe ich so ununterbrochen aushalten müssen, ohne mittags nach Hause zu kommen. Mein Mittagessen bekam ich in einem kleinen Korb an irgend einen Grabenrand hinausgeschickt.
So eintönig diese Arbeit scheint, so machte sie mir doch große Freude. Ihre Eintönigkeit erleichterte ich mir dadurch, daß ich in der Frühstücks- und Mittagspause meinen armen Rübenhackerinnen schöne Geschichten vorlas. Auch führte ich in meiner Tasche entweder Matthias Claudius oder eine andere Sammlung bei mir und lernte, hinter meinen Arbeiterinnen auf- und abgehend, unbemerkt manches schöne Gedicht auswendig. Hiernach kamen die Klee- und die Heuernte und dann die Getreideernte mit ihrer heißen Arbeit und ihrer Freude des Einfahrens, woran alle vierzig Pferde beteiligt waren.
Als wir eben die Rübenernte begonnen hatten, gab es für mich ein wichtiges Ereignis. Der Krieg gegen Österreich drohte auszubrechen. Meine sämtlichen älteren landwirtschaftlichen Mitarbeiter, auch der erste Inspektor, ja selbst der ältere Bruder meines Prinzipals, der Administrator von Wollup, wurden zu den Fahnen einberufen. So blieb meinem Prinzipal nichts anderes übrig, als mich zum ersten Inspektor avancieren zu lassen. Die Not ist ja der beste Lehrmeister. Ich bekam jetzt ein Reitpferd und hatte mich vom Morgen bis zum Abend tüchtig zu tummeln. Am Abend hatte ich die Löhne auszuzahlen, und oft saß ich bis tief in die Nacht, um mit meiner Rechnung in Ordnung zu kommen. Denn es war eine Haupttugend des alten Koppe, daß er eine so sorgfältige Rechnungslegung verlangte und von jedem Arbeiter, jedem Ochsen, jedem Pferd jeden Abend genau aufgeschrieben haben mußte, was und worauf sie gearbeitet hatten.
Mitten in diese tapfere Arbeit, die mir viel Freude machte, kam die Nachricht, daß mein Vater, als die Kriegswolken sich dichter zusammenzogen, sich zum Eintritt in die Armee gemeldet und sich sein früheres Regiment als Oberst ausgebeten hatte. In einem seiner Briefe kam es mir so vor, als ob er dächte, mir wäre die Not des Vaterlandes gleichgültig. Ich trat mit diesem Briefe zu meinem Prinzipal und sagte: „Es hilft mir nichts, ich muß mich heute noch in Berlin als Soldat melden.” Als ich in Berlin bei meinem Vater eintrat, sagte er: „Dein Bruder Franz hat sich bereits bei den Garde-Jägern gemeldet; ich wünsche, daß auch du dort eintrittst.” Ich fuhr sofort nach Potsdam, meldete mich beim Kommandeur des Jägerbataillons und wurde als Freiwilliger angenommen. Um dies meinem Vater mitzuteilen, kehrte ich noch einmal nach Berlin zurück. Als ich bei ihm eintrat, war er sehr traurig. Denn soeben war die Nachricht gekommen, daß sich Preußen in Olmütz vor Österreich gedemütigt hatte und das Schwert wieder in die Scheide gesteckt wurde.
Nun sorgte mein Vater dafür, daß meine Meldung für ungültig erklärt wurde und ich wieder auf mein Arbeitsfeld zurückkehren konnte. Noch an demselben Tage langte ich um Mitternacht auf meinem todmüden Pferde in Kienitz an zur großen Freude meines Prinzipals, um am andern Morgen wieder meinen Dienst zu übernehmen. Als nach einiger Zeit auch meine Kollegen zurückkehrten, wollte mein Prinzipal mich nicht wieder Lehrling werden lassen, sondern schickte mich für den Rest meiner Lehrzeit nach Wollup zu seinem Bruder, einem äußerst liebenswürdigen Manne, dem ich das Hauptbuch abschließen half und bei dem ich auch die in Kienitz nicht vorkommenden Zweige der Landwirtschaft kennen lernte, namentlich die dort blühende Branntweinbrennerei.
An herzlicher Freundlichkeit in beiden Familien Koppe hat es mir nicht gefehlt. Im übrigen aber war das Leben für mich mit viel Kampf und Not verbunden. Das Dasein der jungen Landwirte ist meist sehr traurig, weil sie vielfach für höhere Genüsse keinen Sinn haben. In die Kirche ging niemand. Das war insofern freilich kaum recht zu ändern, weil es mit dem Geistlichen in Kienitz überaus dürftig aussah. Ich ging aber aus Trotz, um nicht als Feigling dazustehen, und gerade weil ich darüber ausgelacht wurde, mitunter in die Kirche. Morgens beim Frühstück las ich meinen Tacitus, römische Geschichte. Im Hause war eine Schwester des Professors Steinmeyer, ein vortreffliches Mädchen, die „Fränzchen” genannt wurde. Mit ihr spielte ich, während die andern Karten spielten, manche Partie Schach. Denn für das Kartenspiel hatte ich mich nicht erwärmen können; ich hatte es wohl einige Male versucht, wurde aber, weil ich keinen Ernst bei der Sache zeigte, abgesetzt. Am liebsten ging ich Sonntags still durch die Felder, die ich hatte bestellen helfen, oder auch wohl an das Ufer der Oder, wo ich vom Deich eine liebliche Aussicht über die weiten fruchtbaren Fluren genoß. Der Abschied von diesem arbeitsreichen Ackerfeld wurde mir immerhin nicht ganz leicht, als es im Frühjahr 1851 galt, des Königs Rock anzuziehen, um mein freiwilliges Soldatenjahr abzudienen.”
Als Soldat in Berlin. 1851.
Am 1. April 1851 trat ich beim Kaiser-Franz-Grenadier-Regiment ein und ließ mich gleichzeitig in der Universität als Student einschreiben, diesmal als Jurist, während ich vor zwei Jahren Philosoph gewesen war. Auf eine gemütliche Wohnung kam es mir ganz besonders an, weil ich wußte, wie wichtig das für einen Studenten ist, damit ihm sein Zimmer angenehmer bleibt als die Kneipe. Auch liebte ich damals sehr die Romantik, sodaß es mir wichtig war, in dem alten Berlin eine romantische Wohnung zu bekommen. Ich fand eine solche in der Klosterstraße, gerade gegenüber der alten Klosterkirche.
Am Anfang waren meine Eltern noch in Berlin, da mein Vater Mitglied des Landtages war. Aber bald kehrten sie nach Westfalen zurück. Ich hatte sie zum Abschied auf den Bahnhof geleitet, von dem sie den Nachtzug benutzten, und ich erinnere mich noch deutlich, daß es mir eigentümlich bange zu Mute war, als ich beim Schein der Laternen durchs Brandenburger Tor zurückwanderte in die große, böse, versuchungsvolle Stadt, in der ich einen wirklich treuen Freund nicht besaß.
Mein früherer Freund, Gustav Bossart, war zwar auch Student in Berlin. Aber unsere Wege waren weit auseinander gegangen, und für meine Seele hatte ich an ihm keinen Halt mehr. Ja, ich mied ihn sogar. Meine Kameraden aber unter den Freiwilligen waren meistenteils recht lose Gesellen, die nichts als Narrenteidinge im Kopfe hatten. Nur einer war darunter, der Sohn eines armen Schäfers aus Pommern, der sich mit eisernem Fleiß durchgearbeitet hatte, um Theologie zu studieren. Er stand leider bei einer andern Kompagnie. Aber ich sah ihn doch mitunter, und er erzählte mir einmal mit großer Freude, daß ihn sein Hauptmann habe zu sich kommen lassen, weil er sein blasses und müdes Gesicht bemerkt hatte, — er mußte sich damals aufs äußerste durchhungern — und wie er ihn aus eigenen Mitteln aufs freundlichste versorgt und ihm einen Mittagstisch verschafft habe. Auch fand ich einen unter unsern Unteroffizieren, der sich vor der gewöhnlichen Sorte auszeichnete und für seine Leute vortrefflich sorgte.
Mein Kompagnieführer war mein Vetter, August von Witzleben, ein strammer Soldat, der es mit der Ordnung sehr genau nahm, aber von dem Einen, was not ist für seine Soldaten, nichts wußte. Interessant war mir jedesmal der Wachdienst, und ich freute mich immer, wenn ich an die Reihe kam. Am interessantesten war meine letzte Wache, die mir mein Vetter offenbar aus besonderer Freundlichkeit ausgesucht hatte, nämlich vor dem Palais des alten Kaisers, des damaligen Prinzen Wilhelm. Es war die zweite Nacht vor der Enthüllung des Denkmals Friedrichs des Großen. Ich hatte den Vorzug, in der frühen Morgendämmerung, ehe noch jemand auf der Straße sich blicken ließ, die Probe der Enthüllung vornehmen zu sehen und früher als andere das Bild des alten Fritz zu schauen.
An demselben Tage, vor meiner Ablösung, war ein gewaltiges Gedränge vor dem prinzlichen Palais. Viele fremde Offiziere fuhren in ihren Wagen vor, und ich mußte beständig auf meiner Hut sein. Unter andern kam auch mein alter Freund, Prinz Friedrich Wilhelm, und ich hatte die Freude, auch vor ihm mein Gewehr zu präsentieren. Er sah mich einen Augenblick scharf an, erkannte mich aber offenbar nicht in meinem Soldatenrock. Als er fort war, kam mit einem Male mitten aus dem Getümmel des zusammengedrängten