Wachtmeister Studer. Friedrich C. Glauser
Es ging nicht gut an, Spielverluste auf die Spesenrechnung zu setzen. Aber dann interessierte ihn wieder das Verhalten seiner beiden Partner beim Spiel so stark, dass er schließlich nickte.
Äschbacher zog die Tafel zu sich heran, zeichnete mit der Kreide auf den oberen Holzrand drei Buchstaben: S.E.A. Dann begann er die Karten zu mischen und auszuteilen. Der alte Ellenberger hatte eine Stahlbrille aus der Rocktasche gezogen und sie auf seine Nase gesetzt…
Beim ersten Spiel konnte Studer hundertfünfzig weisen. Er atmete auf.
»Wachtmeister« sagte der Gemeindepräsident und kratzte mit dem Fingernagel in seinem Katerschnurrbart, »Ihr geht, hab’ ich gehört, bald in Pension?…«
Studer sagte: »Ja.«
»So«, mit einem einzigen Griff breitete Äschbacher die Karten fächerförmig aus, hielt sie vor die Nase und:
»Ich hätte für Sie… Ich hätte für Sie eine interessante Beschäftigung. Ein Freund von mir«, fuhr er vertraulich fort, »hat ein Auskunftsbüro aufgetan und sucht einen tüchtigen Mann, der Sprachen beherrscht, der etwas Verstand im Kopf hat, der Untersuchungen selbstständig führen könnte. Eintritt so bald wie möglich. Dass man Sie von der Polizeidirektion ohne weiteres gehen lässt, dafür will ich schon sorgen. Ich habe meine Beziehungen. Einverstanden? Ich telefoniere dann morgen…«
– Studer solle sich von dem Schlangenfanger nicht einlieren lassen, meinte der alte Ellenberger. Der Schlangenfanger verspreche immer den Mond, aber wenn man näher hinsehe, sei es nicht einmal ein Weggli.
Äschbacher blickte böse auf.
– Ellenberger solle so gut sein und die Klappe halten, es gebe sonst Durchzug, meinte er gehässig. – Dann solle der Herr Gemeindepräsident seine Vorschläge machen, wenn er mit dem Studer unter vier Augen sei. Wenn er sie so öffentlich mache, so sei es nur recht und billig, wenn auch er seine Meinung sage.
Studer mischte die Karten.
Am Tisch nebenan war Armin Witschi aufgestanden, hatte die Kellnerin um die Taille gefasst und zog die sich Sträubende zum Tanzboden. Auch der Coiffeurgehilfe mit den roten Lippen war aufgestanden, hatte Sonjas Arm genommen. Sonja schien nicht gern mitzugehen…
Studer starrte auf die beiden Paare, wie sie auf dem erhöhten Podium enganeinandergeschmiegt tanzten. Sonja hatte ihre Hand gegen die Schulter des Coiffeurgehilfen gestemmt, um ein wenig Abstand zu halten. Die Musik spielte und Schreier sang den Refrain mit:
»Grüezi, Grüezi«, so sagt man in der Schweiz.
»Allez! allez!« sagte Äschbacher ungeduldig, »Spiel geben!« Aber auch er drehte sich um und beobachtete die Tanzenden.
»Ja, ja, die Sonja«, er nickte. »Ein gutes Meitschi!«
– Der Äschbacher müsse das ja besser wissen als andere, meinte Ellenberger leise, dann ließ er wieder ein dröhnendes Lachen hören, das so gar nicht zu seinem mageren Körper passte…
In der Tür, die vom Haus in den Garten führte, erschien die Wirtin, sah sich suchend um, entdeckte den Tisch der drei und kam auf ihn zu.
»Herr Gemeindepräsident«, sagte sie mit der Stimme des jodelnden Gritli Wenger, »Ihr werdet am Telefon verlangt.«
So, sagte Äschbacher. Vielleicht erhalte er Nachricht von seinem verschwundenen Auto.
Studer wurde aufmerksam.
– Wann denn das Auto fortgekommen sei? erkundigte er sich. – Gestern Abend, war die Antwort. Er habe es hier vor dem ›Bären‹ stehen lassen, aber wie er dann um Mitternacht habe heimwollen, sei es fortgewesen. Er habe vergessen, es abzuschließen.
Studer fluchte innerlich. Nicht einmal auf den Murmann war Verlass. Warum hatte der Landjäger ihm das nicht erzählt?
– Er komme gleich wieder zurück, sagte Äschbacher und ging mit der Wirtin. Seinen dicken Bauch trug er vor sich her wie ein Hausierer das Brett, auf dem er seine Waren ausgelegt hat.
Der alte Ellenberger war plötzlich wieder der sehr vornehme Freund des Residenten, er redete sein gepflegtes Französisch und gab Studer zu verstehen, er müsse sich vor dem Gemeindepräsidenten in acht nehmen.
Studer erwiderte, er habe gemeint, der Äschbacher sei dümmer als ein zweitägiges Kalb?
Das sei nur eine Redensart gewesen, meinte Ellenberger und ließ die Karten in einer Kaskade auf den Tisch sprühen. Er sei nicht dumm, der Äschbacher, oh nein… Es würde ihn, Ellenberger, gar nicht wundern, wenn auch der Diebstahl des Autos nichts weiter sei als ein Trick. Da kam aber der Gemeindepräsident schon zurück. Ein unangenehm höhnisches Lächeln zog seinen Katerschnurrbart schief.
»In Thun haben sie den Mann erwischt«, sagte er. »Ich muss es holen gehen. Aber Ihr sollt ans Telefon kommen, Wachtmeister, der Untersuchungsrichter will mit Euch reden…«
»Heut? Am Sonntag?«
»Ja… Dann könnt Ihr heut abend nach Bern zurückfahren. Der Fall ist erledigt…«
»Hä?« sagte der alte Ellenberger.
Aber Äschbacher drückte seinen breitrandigen Filzhut auf den Kopf, grüßte: »Lebet wohl!« und verließ den Garten.
Der Untersuchungsrichter war wirklich am Telefon.
Seine ersten Worte waren:
»Der Schlumpf hat also gestanden, Wachtmeister…«
»Gestanden?« brüllte Studer ins Telefon. Er begann richtig wild zu werden. Es kam auch wirklich zu viel zusammen: Der Traum der vorigen Nacht, der Revolver, die leeren Hülsen in der Vase auf dem Klavier, das Angebot des Gemeindepräsidenten, die Spannung zwischen Ellenberger und Äschbacher, Sonja Witschi, besonders die Sonja, die mit dem Coiffeurlehrling tanzte – und dann, vor allem, die Antwort des Landjägers Murmann auf die Frage, ob er den Schlumpf für schuldig halte: ›Chabis‹, hatte der Murmann gesagt… und nun flötete der Untersuchungsrichter ins Telefon:
»Der Schlumpf hat also gestanden, Wachtmeister…«
»Wann?« fragte Studer böse zurück.
»Heute nach dem Mittagessen, um halb eins, wenn Sie die genaue Zeit interessiert…« Auch noch Ironie! Das war zu viel für den Wachtmeister Studer!
»Gut«, er sprach ganz leise. »Ich werde morgen früh nach Thun kommen, Herr Untersuchungsrichter.«