Wachtmeister Studer. Friedrich C. Glauser

Wachtmeister Studer - Friedrich C.  Glauser


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Diens­ter­fah­rung hat­te er Stu­der ein­mal fol­gen­des ge­sagt:

      »Stu­der (er sag­te ›Stüdère‹), glaub mir: Lie­ber zehn Mord­fäl­le in der Stadt als ei­ner auf dem Land. Auf dem Land, in ei­nem Dorf, da hän­gen die Leu­te wie die Klet­ten an­ein­an­der, je­der hat et­was zu ver­ber­gen… Du er­fährst nichts, gar nichts. Wäh­rend in der Stadt… Mein Gott, ja, es ist ge­fähr­li­cher, aber du kennst die Bur­schen gleich, sie schwat­zen, sie ver­schwat­zen sich… Aber auf dem Land!… Gott be­hü­te uns vor Mord­fäl­len auf dem Lan­d…«

      Stu­der seufz­te. Der Kom­mis­sär Ma­de­lin hat­te recht.

      Und dun­kel bohr­te in ihm noch der Vor­wurf, dass er es un­ter­las­sen hat­te, den Brow­ning mit der nö­ti­gen Vor­sicht zu be­han­deln. Vi­el­leicht hät­te man doch Fin­ger­ab­drücke dar­auf fest­stel­len kön­nen? Aber was hät­te das genützt? Er konn­te doch nicht den Leh­rer Schwomm oder gar den Ge­mein­de­prä­si­den­ten Äsch­ba­cher mit ei­nem Tin­ten­kis­sen und For­mu­la­ren be­su­chen und sie freund­lichst bit­ten, doch die Güte zu ha­ben und ihre wer­ten Fin­ger­spit­zen auf die­sen amt­li­chen Pa­pie­ren zu ver­ewi­gen… Ge­wiss, es gab ja an­de­re Metho­den, sich Fin­ger­ab­drücke zu ver­schaf­fen: Zi­ga­ret­ten­do­sen aber Stu­der rauch­te kei­ne Zi­ga­ret­ten, und dann wa­ren die­se Metho­den alle so kom­pli­ziert. In Bü­chern mach­ten sie sich gut, in Spio­na­ge­bü­ros schi­en man manch­mal Er­folg mit ih­nen zu ha­ben… aber in der Wirk­lich­keit?… Stu­der nies­te und ging ins Bet­t…

      – Er saß in ei­nem rie­si­gen Hör­saal, ein­ge­zwängt in eine schma­le Bank. Der De­ckel des Pul­tes vor ihm drück­te ihn schmerz­haft auf den Ma­gen, er konn­te die Bei­ne nicht stre­cken. Die Luft im Raum war sti­ckig, er konn­te nicht recht at­men. Vor ei­ner schwar­zen Wand­ta­fel ging ein Mann in weißem Man­tel rast­los auf und ab. Er sprach. Und auf die Wand­ta­fel war mit Krei­de ein rie­si­ger Dau­men­ab­druck ge­zeich­net. Die Li­ni­en dar­in bil­de­ten ver­rück­te Mus­ter, Schlei­fen, Spi­ra­len, Ber­ge, Tä­ler, Wel­len. Gera­de Stri­che wa­ren von den ein­zel­nen Li­ni­en aus ge­zo­gen, rag­ten über den Ab­druck hin­aus und tru­gen an ih­rem Ende Num­mern. Und der Mann, der vor der Ta­fel hin und her lief, zeig­te auf die Num­mern und do­zier­te. »Von der Wie­ge bis zum Gra­be blei­ben die Ka­pil­la­ren iden­tisch, mer­ken Sie sich das, mei­ne Her­ren, und wenn zwölf Punk­te über­ein­stim­men, so ha­ben Sie den ma­the­ma­ti­schen Be­weis. Dies ist der Dau­men, mei­ne Her­ren, der Dau­men­ab­druck ei­nes Man­nes, der durch die Unacht­sam­keit ei­nes Be­am­ten ver­lo­ren­ge­gan­gen ist und den ich nach mei­ner neu­en Metho­de des fer­nen Wel­len­se­hens zur re­sti­tu­tio ad in­te­grum ge­bracht habe. Der Schul­di­ge sitzt zwi­schen Ih­nen, ich will ihn nicht nen­nen, denn er ist ge­straft ge­nug. Er wird in Pen­si­on ge­hen müs­sen und in sei­nem Le­bensal­ter ver­hun­gern, denn er hat pflicht­ver­ges­sen ge­han­delt. Denn die­ser Dau­men, mei­ne Her­ren und Da­men…« In der ers­ten Ban­krei­he saß Son­ja Wit­schi, sie trug ein wei­ßes Kleid und blick­te mit Ver­ach­tung auf Stu­der. Das schmerz­te Stu­der sehr. Am meis­ten aber tat ihm weh, dass der Ge­mein­de­prä­si­dent Äsch­ba­cher ne­ben Son­ja saß und sei­nen Arm um die Schul­tern des Mäd­chens ge­legt hat­te. Stu­der woll­te sich un­ter der Bank ver­ste­cken, er fühl­te, dass die Bli­cke al­ler Zu­hö­rer auf ihn ge­rich­tet wa­ren, er konn­te nicht, die Bank war zu eng… Da stand plötz­lich in der Tür des Saa­l­es der Po­li­zei­haupt­mann und sag­te laut: »Hast dich wie­der bla­miert, Stu­der? Komm her, komm so­fort her…« Stu­der zwäng­te sich aus der Bank, Son­ja und Äsch­ba­cher lach­ten ihn aus, der Herr im wei­ßen Man­tel war plötz­lich der Leh­rer Schwomm, und er sang: »Das ist die Lie­be, die dum­me Lie­be…« Äsch­ba­cher hat­te noch im­mer sei­nen Dau­men auf­ge­r­eckt, der wuchs und wuchs, schließ­lich war er so groß wie die Zeich­nung auf der Ta­fel… »Po­ro­sko­pie«, rief der Leh­rer Schwomm im Arzt­kit­tel, »Dak­ty­lo­sko­pie!« schrie er. Und am Fens­ter stand der Kom­mis­sär Ma­de­lin, sah böse drein und fluch­te: »Ha­ben Sie Lo­card ver­ges­sen, Stüdè­re, fünf­zehn und sechs und sechs und elf Punk­te, das war zur Über­füh­rung ge­nü­gend im Fal­le Des­vi­gnes. Und im Fal­le Wit­schi?… Al­les ver­ges­sen, Stüdè­re? Schä­men Sie sich.« Der Po­li­zei­haupt­mann aber zog ein Paar Hand­schel­len aus der Ta­sche und fes­sel­te Stu­der. Dazu sag­te er. »Aber ich zahl’ dir kei­nen Hal­ben Ro­ten im Bahn­hof­buf­fet. Ich nicht!« Stu­der wein­te, er wein­te wie ein klei­nes Kind, die Nase stach ihm, er zot­tel­te hin­ter dem Po­li­zei­haupt­mann her. Auf dem Rücken des Man­nes, ganz nah vor Stu­ders Au­gen, hing eine wei­ße Ta­fel. Da­rauf war wie­der der Dau­men­ab­druck. Und dar­un­ter stand in di­cker Rund­schrift: ›Kei­ne Tan­nen­na­deln, aber ein ver­lo­ren­ge­gan­ge­ner Ab­druck…‹ Dann saß Stu­der in ei­ner Zel­le, zwei Bet­ten wa­ren dar­in. Auf dem einen lag der Schlumpf, eine blaue Zun­ge hing ihm aus dem Mund. Auch er hielt den Dau­men der Rech­ten auf­ge­r­eckt und blin­zel­te mit den Li­dern. Er er­hob sich, im­mer noch hing die Zun­ge aus sei­nem Mund, er schritt auf Stu­der zu, stand vor ihm und woll­te ihm den Dau­men ins Auge sto­ßen. Stu­der war ge­fes­selt, er konn­te sich nicht weh­ren, er schrie…

      Der Mond schi­en ihm in die Au­gen. Sein Py­ja­ma war feucht, er hat­te aus­gie­big ge­schwitzt. Lan­ge blieb er wach lie­gen. Der Traum woll­te sich nicht ver­scheu­chen las­sen und Stu­der hat­te Angst, wie­der ein­zu­schla­fen. Es war nicht der Dau­men, der rie­si­ge Dau­men­ab­druck, der ihn be­schäf­tig­te. Merk­wür­di­ger­wei­se wur­de er das an­de­re Bild nicht los, das er im Trau­me ge­se­hen hat­te: Äsch­ba­cher, der sei­nen Arm um Son­jas Schul­tern ge­legt hat­te und ihn aus­lach­te…

      Es war still drau­ßen. Ger­zen­steins Laut­spre­cher schwie­gen.

      The Convict Band

      Der alte El­len­ber­ger sah mit sei­nem wei­ßen Ver­band rund um den Kopf ei­nem Va­rietéfa­kir ähn­lich, der sei­nen Vor­stel­lungs­smo­king ver­setzt hat und nun in ei­nem ge­lie­he­nen An­zug spa­zie­ren ge­hen muss. Er spa­zier­te zwar nicht, er saß ein­sam und still an ei­nem der vie­len run­den Ei­sen­tisch­chen, die mit ih­ren ro­ten De­cken aus­sa­hen wie Flie­gen­pil­ze in der Fan­ta­sie ei­nes ex­pres­sio­nis­ti­schen Ma­ler­s…

      Das Wet­ter war hei­ter, warm und es schi­en so­gar be­stän­dig. Die Kas­ta­ni­en­bäu­me im Gar­ten des ›Bä­ren‹ tru­gen stei­fe rote Py­ra­mi­den an ih­ren Äs­ten und ihre Blü­ten fie­len auf die Ti­sche wie ro­ter Schnee.

      Der Gar­ten war groß; hin­ten, wo er durch einen Zaun ab­ge­schlos­sen war, war eine Estra­de auf­ge­rich­tet wor­den. Zwei Paa­re tanz­ten dar­auf. Fast an den Zaun ge­klebt spiel­te die Mu­sik. Hand­har­fe, Kla­ri­net­te, Bass­gei­ge. Als der Wacht­meis­ter den Gar­ten durch­schritt, um den al­ten El­len­ber­ger zu be­grü­ßen, nick­te er der Mu­sik zu. Die drei nick­ten zu­rück, er­freut, schi­en es. Der Hand­har­fen­spie­ler lä­chel­te, nahm einen Au­gen­blick die Hand von den Bäs­sen und wink­te. Es war Schrei­er.

      Der Schrei­er, den Stu­der vor drei Jah­ren bei sei­ner Wir­tin ver­haf­tet hat­te… Der Bass­gei­gen­spie­ler schwenk­te den Bo­gen – auch ein Be­kann­ter, Spe­zia­li­tät Man­sar­den­dieb­stäh­le, seit zwei Jah­ren hat­te man auf der Po­li­zei nichts mehr von ihm ge­hör­t…

      Stu­der setz­te sich an des al­ten El­len­ber­gers Tisch.

      Be­grü­ßung… – Wie geht’s…


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