Wachtmeister Studer. Friedrich C. Glauser

Wachtmeister Studer - Friedrich C.  Glauser


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viel­leicht auch vor dem ›On­kel Äsch­ba­cher‹.«

      »Ja«, sag­te Mur­mann, »das glaub’ ich. Die Son­ja meint, dass ihr Va­ter Selbst­mord be­gan­gen hat. Aber wenn man Selbst­mord an­nimmt, dann wer­den kei­ne Ver­si­che­run­gen aus­ge­zahlt. Und der Ger­ber, der Coif­feur, hat be­merkt, dass bei dem so­ge­nann­ten Mord nicht al­les stimmt. Und nun hat die Son­ja Angst, er kön­ne et­was sa­gen… Ver­stehst du?«

      »Er­zähl’ ein­mal die Ge­schich­te von An­fang an. Ich brauch’ we­ni­ger die Tat­sa­chen als die Luft, in der die Leu­te ge­lebt ha­ben… Ver­stehst? So die klei­nen Sä­che­li, auf die nie­mand acht­gibt und die dann ei­gent­lich den gan­zen Fall er­hel­len… Hell!… So­weit das mög­lich ist, na­tür­lich.«

      Von großen Pau­sen un­ter­bro­chen, mit vie­len Ab­schwei­fun­gen und un­ge­zähl­ten ein­ge­schal­te­ten ›Nid?‹ und ›Be­griifscht?‹ er­zähl­te Land­jä­ger­kor­po­ral Mur­mann dem Wacht­meis­ter Stu­der etwa fol­gen­de Ge­schich­te:

      – Der Wit­schi Wen­de­lin hat­te vor zwei­und­zwan­zig Jah­ren ge­hei­ra­tet. Er war da­mals bei der Bahn ge­we­sen. Das Ehe­paar hat­te zu­erst eine Woh­nung im Haus des Äsch­ba­cher in­ne­ge­habt, dann war eine Tan­te der Frau Wit­schi ge­stor­ben, die Erb­schaft war ziem­lich groß ge­we­sen und da hat­ten sie sich ent­schlos­sen zu bau­en…

      »Wie heißt üb­ri­gens die Frau Wit­schi mit dem Vor­na­men?« frag­te Stu­der.

      »Ana­sta­sia… Wa­rum?«

      Stu­der lä­chel­te, schwieg eine Wei­le, dann sag­te er:

      »Nur so, er­zähl’ wei­ter…«

      – Sie hat­ten also das Haus ge­baut, Kin­der wa­ren ge­kom­men, das Ehe­paar schi­en glück­lich zu sein. Die Frau war schaf­fig, sie hielt den Gar­ten in Ord­nung, sie be­dien­te im La­den. Am Abend sah man die bei­den ein­träch­tig auf ei­ner Bank vor dem Hau­se sit­zen, der Wit­schi las die Zei­tung, die Frau strick­te…

      – Stu­der sah das Bild deut­lich vor sich. Un­ter den Fens­tern des ers­ten Stockes glänz­te noch, neu und un­ver­blasst, der Name des Hau­ses, ›Al­pen­ruh‹, und über der Tür der Spruch: ›Grüß Gott, tritt ein, bring Glück her­ein.‹ Der Wen­de­lin Wit­schi hock­te auf der Bank, mit auf­ge­krem­pel­ten Hemds­är­meln, bis­wei­len leg­te er die Zei­tung bei­sei­te (er las si­cher nur den Ger­zen­stei­ner An­zei­ger), stand auf, um ein Zweig­lein am Spa­lier an­zu­bin­den, das im Wind schau­kel­te, kam zu­rück… im Sand krab­bel­ten die bei­den Kin­der. Die Luft war still. Heu­ge­ruch lag schwer in der Luft. Die Frau sag­te: ›Du, loos ei­nisch…‹ Sehr viel Frie­den. Die La­denklin­gel schrill­te. Man stand ge­müt­lich auf, ging zu­sam­men in den La­den, be­sprach mit den Kun­den das Wet­ter, die Po­li­ti­k… Der Wen­de­lin (wie nann­te ihn wohl sei­ne Frau? Das müss­te man ei­gent­lich auch wis­sen… Vat­ter? Wahr­schein­lich. Das pass­te am bes­ten… ), der Wen­de­lin hat­te die Dau­men in den Aus­schnit­ten der Wes­te und war ein an­ge­se­he­ner Bür­ger, ver­wandt mit dem Ge­mein­de­prä­si­den­ten, Haus­be­sit­zer… Und dann, Jahr für Jahr, die Än­de­run­gen… Die Frau, die häs­sig wird, die Frau, die Ro­ma­ne liest, dann die fi­nan­zi­el­len Schwie­rig­kei­ten, der Sohn, der sich auf die Sei­te der Mut­ter schlägt, der Gar­ten, der ver­lot­tert, der Wen­de­lin, der rei­sen geht, der Wen­de­lin, der Schnaps trinkt, die Zeit­schrif­ten mit den Ver­si­che­run­gen… Bei Gan­zin­va­li­di­tät war die Sum­me doch ge­ra­de so hoch wie bei To­des­fall… Aber als Bild, das sich nicht ver­trei­ben ließ, sah Stu­der im­mer die Bank vor dem Haus, die Kin­der, die am Bo­den spiel­ten, das lo­cke­re Zweig­lein, das im Win­de schwank­te, und das der Wen­de­lin mit ei­nem gel­ben Bast­fa­den fest­ban­d…

      Stu­der hat­te eine Wei­le nicht mehr zu­ge­hört, jetzt horch­te er auf, denn Mur­mann sag­te:

      »… und einen Hund hat er auch ge­habt. Ein­mal, wie der Wit­schi halb be­sof­fen nach Haus ge­gan­gen ist, ha­ben ihn ein paar Bur­schen an­ge­ödet. Da hat der Hund ge­bellt und ist auf die Bur­schen los. Ei­ner hat ihn mit ei­nem Stein tot­ge­schla­gen…«

      Das ge­hör­te na­tür­lich auch dazu. Der Wit­schi, der sich ein­sam fühlt und sich einen Hund hält. Wahr­schein­lich war der das ein­zi­ge We­sen, das ihm kei­ne Vor­wür­fe mach­te, vor dem er kla­gen konn­te… Und wie­der ver­sank Stu­der ins Träu­men.

      – Er sah die Fa­mi­lie Wit­schi um den Tisch sit­zen, im Wohn­zim­mer, das er kann­te. In der Ecke stand das stau­bi­ge Kla­vier. Der Wit­schi ver­such­te Zei­tung zu le­sen… Und die kei­fen­de Stim­me der Frau: Ver­si­chert sei­en sie und das vie­le Geld, das man der Ver­si­che­rung ge­zahlt habe! Die Frau dach­te nicht dar­an, dass schließ­lich sie bis jetzt alle Vor­tei­le ge­nos­sen hat­te von die­ser Ver­si­che­rung, die bun­ten Heft­li mit den Ro­ma­nen dar­in… Wa­ren die­se Ro­ma­ne nicht et­was Ähn­li­ches für die Ana­sta­sia Wit­schi wie für ih­ren Mann der Schnaps? Eine Mög­lich­keit, der Öde zu ent­rin­nen, zu flie­hen in eine Welt, in der es Kom­tes­sen gab und Gra­fen, Sch­lös­ser und Tei­che und Schwä­ne und schö­ne Klei­der und eine Lie­be, die sich in Sprü­chen Luft mach­te, wie: ›Son­ja, mei­ne ein­zig Ge­lieb­te…‹

      Mur­mann schwieg schon eine ge­rau­me Wei­le. Er woll­te den Wacht­meis­ter nicht in sei­nen Träu­men stö­ren. Plötz­lich schi­en Stu­der das Schwei­gen auf­zu­fal­len. Er schreck­te auf.

      »Nur wei­ter, nur wei­ter… Ich hör schon zu…«

      – Es schei­ne nicht, mein­te Mur­mann, über was denn Stu­der so tief nach­ge­dacht habe? – Er wer­de es ihm spä­ter sa­gen. Mur­mann sol­le jetzt die bei­den Tage schil­dern, die Ent­de­ckung der Lei­che, die Un­ter­su­chung, die Flucht des Schlumpf… – Da sei nicht viel zu sa­gen, nicht mehr auf alle Fäl­le, als was in den Ak­ten stün­de. Stu­der sol­le einen Au­gen­blick war­ten…

      Mur­mann stand auf, um die Ak­ten zu ho­len…

      Die Stil­le im Zim­mer war tie­f… Stu­der ging zum Fens­ter und öff­ne­te einen Flü­gel.

      Deut­lich durch die Nacht drang ein Sum­men zu ihm.

      Er kann­te das Lied. Eine Klein­mäd­chen­stim­me hat­te es ges­tern vor ei­nem Zel­len­fens­ter ge­sun­gen:

      »O, du liebs En­ge­li…«

      Das Sum­men rie­sel­te von oben durch das Dun­kel. Frau Mur­mann sang ihr Kind in den Schlaf…

      Der Land­jä­ger kam zu­rück. Er trug lose Blät­ter in der Hand, setz­te sich, brei­te­te sie vor sich aus und be­gann zu spre­chen. Stu­der stand am Fens­ter, ge­gen die Wand ge­lehnt.

      – Der Cot­te­reau – üb­ri­gens, wie habe Stu­der den Cot­te­reau ent­deckt? – Stu­der wink­te ab: Spä­ter…

      – Also der Cot­te­reau sei in den Pos­ten ge­stürzt ge­kom­men und habe wir­res Zeug durch­ein­an­der­ge­re­det von ei­nem To­ten, der im Wald lie­ge… Ein Er­mor­de­ter!…

      »Ich hab’ an den Re­gie­rungs­statt­hal­ter te­le­fo­niert, be­vor ich auf­ge­bro­chen bin, und der hat ver­spro­chen zu kom­men. Vor der Türe hab’ ich den Ge­mein­de­prä­si­den­ten Äsch­ba­cher ge­trof­fen, der war vom Leh­rer Schwomm be­glei­tet. Das war nichts Merk­wür­di­ges, denn der Schwomm ist Ge­mein­de­schrei­ber. Die bei­den ha­ben sich auf­ge­drängt, der Äsch­ba­cher hat so­fort die Un­ter­su­chung


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