Wachtmeister Studer. Friedrich C. Glauser
Gemeindepräsident…«, sagte Studer leise und wiegte den Kopf hin und her, wie ein alter Jude, dem plötzlich die Bedeutung eines dunklen Talmudsatzes klar geworden ist.
»Ja. Der Vater hat den Browning probiert, Zigarettenblätter in den Lauf geschoppt, bis er gewusst hat, wie man es zu machen hat, dass es keine Pulverspuren gibt. Also, an dem Abend hab’ ich ihm abgepasst. Von zehn Uhr an. Ich hab’ das ›Zehnderli‹ vom Vater gehört, er ist abgestiegen, wie wir es vereinbart hatten, er hat mich gesehen, und mir noch zugewunken, hat neben das Rad seine Brieftasche, seine Uhr, seinen Füllfederhalter…«
»Parker Duofold«, sagte Studer, mit der Stimme eines anpreisenden Verkäufers.
»Richtig. Und dann ist er in den Wald gegangen. Es hat lange gedauert, bis ich den Schuss gehört habe. Und dann war es nicht einer, sondern zwei. Das hat mich gewundert. Denn die Schüsse sind kurz hintereinander gefallen. Ich kam nicht recht draus. Wenn er sich mit dem ersten nicht verwundet hatte, so war es doch eine Dummheit, noch einmal zu schießen, denn das zweite Mal hätte er doch wieder Zigarettenblättli in den Lauf schoppen müssen, und das ging doch eine Weile.«
Schweigen. Sonja seufzte kurz auf, zog ihr verknäueltes Taschentuch hervor und wischte sich die Augen. Studer legte seine Hand über die Hand des Mädchens.
»Nicht weinen, Meitschi«, sagte er. »Es ist wie beim Zahnarzt, nur wenn er die Zange ansetzt, spürt man’s, nachher geht’s von selbst.« Sonja musste ein wenig lächeln.
Im Küchenofen knackte das Holz, von dem Deckel, der eine Pfanne bedeckte, fielen Tropfen auf die Herdplatte und zischten leise. Der Wachstuchüberzug des Tisches, an dem die Drei saßen, fühlte sich speckig und kalt an. Durch die offene Tür sah man ein einsames Huhn, das vergebens versuchte, die Pflastersteine wegzukratzen. Es war sehr emsig, das kleine weiße Huhn, und sehr still…
»Ich ging dann in den Wald. Ich hab den Vater gesucht. Wir hatten den Platz ausgemacht, damit ich nicht zu lange nach dem Revolver zu suchen brauchte. Endlich hab’ ich den Vater gefunden. Er lag an einer ganz anderen Stelle.«
»An einer anderen Stelle? Bist du sicher?«
»Ja, wir hatten eine große Buche als Treffpunkt ausgemacht, aber er lag etwa dreißig Meter davon entfernt unter einer Tanne.«
»Ja, unter einer Tanne. Und das war ein Glück…« sagte Studer leise.
»Warum ein Glück?« fragte Sonja mit erstickter Stimme.
»Weil ich sonst nicht hätte merken können, dass auf der Kutte des Vaters keine Tannennadeln waren.«
Die beiden blickten ihn erstaunt an, aber Studer winkte ab. Der stechende Punkt in der Brust meldete sich wieder, sein Kopf war heiß. Nur jetzt keine Erklärungen geben müssen!…
»Er lag unter der Tanne und hatte einen Schuss hinter dem rechten Ohr. Ich hab’s gesehen, weil ich eine Taschenlampe mitgenommen hatte. Der Revolver lag neben seiner Hand.«
»Der rechten oder der linken?«
»Wart, Wachtmeister, ich muss nachdenken. Die Arme waren ausgestreckt, zu beiden Seiten des Kopfes, und der Browning lag in der Mitte…«
»Das bringt uns nicht weiter«, sagte Studer.
»Ich hab die Waffe aufgelesen und bin heim. Unterwegs hab ich mir dann überlegt, was wir machen sollen. Der Vater war tot. Vielleicht war das besser für ihn. Ich wusste, dass der Onkel Äschbacher nur eine Gelegenheit abpasste, um den Vater nach Hansen oder Witzwil zu versorgen.«
»Hast du die Brieftasche und die anderen Sachen gleich aufgehoben, nachdem sie der Vater abgelegt hat?«
»Nein, nicht gleich. Es ist nämlich etwas dazwischengekommen, Ich hab ein Auto näherkommen hören…«
»Von wo kam das Auto, vom Dorf oder von der anderen Richtung?«
»Vom Dorf, glaub ich.«
»Glaub ich! Glaub ich! Weißt du das nicht sicher?«
»Nein, denn wie ich’s gehört hab, bin ich tiefer in den Wald…«
»Bist du auf der Seite gestanden, auf der dein Vater in den Wald ist oder auf der anderen?«
»Auf der anderen, ich hab dann noch die Straße überqueren müssen.«
»Und da war kein Auto mehr da?«
»Nein. Aber es ist etwas Merkwürdiges mit dem Auto losgewesen. Es ist ganz langsam gefahren, das hab ich am Geräusch vom Motor gehört, die Scheinwerfer haben die Straße beleuchtet, und auch den Wald, von weither, und ich hab mich auf den Boden geworfen, um nicht gesehen zu werden. Die Straße macht oben und unten von der Stelle einen Rank, sodass man nicht genau wissen kann, aus welcher Richtung ein Karren kommt«, fügte Armin entschuldigend hinzu.
»Und?«
»Ja, plötzlich ist das Licht von den Scheinwerfern ausgegangen, ich hab den Motor nicht mehr gehört. Ich hab gewartet eine Zeit lang, dann bin ich langsam näher zur Straße gekrochen. Aber da war das Auto verschwunden.«
Der alte Ellenberger besaß eine Camionette zum Transport seiner Hochstämme. Der Ellenberger hatte die Prämien der Lebensversicherung bezahlt…
»Und dann hast du die Sachen, die dein Vater am Waldrand niedergelegt hatte, aufgehoben und bist heimgegangen?«
»Ja.« Armin nickte.
»Willst du mich nach Bern begleiten, Meitschi?« fragte Studer. »Ich glaub, wir haben hier alles erfahren, was nötig war.« Er zog seine Uhr. »Um Zwei werden wir wohl dort sein. Wir können dann bei mir daheim essen. Und dann wartest du bei uns zu Hause auf mich. Ich führ dich dann heut abend wieder heim. Apropos, wer hat den Revolver bei der Frau Hofmann versteckt? Der Gerber? Ich hab’s gedacht…«
Mikroskopie
Es war etwa zehn Uhr abends, als bei Dr. med. Neuenschwander (Sprechstunden 8-9) die Nachtglocke schellte. Der Arzt war ein großer, knochiger Mann, Ende der dreißiger Jahre, mit einem langen Gesicht und ziemlich weit im Umkreis bekannt und beliebt. Er hatte die merkwürdige Angewohnheit, den reichen Bauern sehr hohe Rechnungen zu stellen. Dafür vergaß er manchmal bei anderen Leuten eine Zwanzigernote oder einen Fünfliber auf dem Küchentisch. Wenn er dabei erwischt wurde, konnte er sehr böse werden.
Als er die Glocke schellen hörte, saß er in Hemdsärmeln an seinem Schreibtisch. Er ging im Geiste die Patienten durch, die ihn vielleicht brauchen könnten, aber er konnte sich auf keinen schweren Fall besinnen.
»Vielleicht ein Unfall«, murmelte er. Dann ging er öffnen.
Ein