Luisas Chance. Carola Wegerle
Luisa aus.
„Du kennst den Platz also auch“, staunt er und lässt sich neben ihr ins Moos fallen. So unauffällig wie möglich versucht Luisa, ihre Hände von ihrer hölzernen Waffe zu lösen. Ihre Knöchel sind ganz weiß geworden, so fest hielt sie den Ast umklammert.
„Hab‘ ich dich erschreckt?“, fragt Daniel und blickt auf den Ast. Ist das peinlich, denkt Luisa und versteckt ihre verräterischen Knöchel hinter dem Rücken. Daniel guckt erschrocken.
„Entschuldige, ich wollte nicht – “
„Nö, gar nicht“, kichert Luisa. „Wie kommst du denn da drauf?“ Oh Gott, stöhnt sie innerlich, was redet sie denn da? Und warum kichert sie so schwachsinnig? Bevor sie wieder rot wird, muss sie was tun. Sie steht auf und klopft Racker auf den Rücken.
„Wo ist Felissa?“, fragt sie, um von sich abzulenken. Felissa ist Daniels braune Stute.
„Mampft den Löwenzahn auf der kleinen Wiese dort drüben“, lächelt Daniel, der sofort begriffen hat, dass sie vor ihm flüchtet. „Ich bin lieber allein, wenn ich mich ein bisschen mit den Bäumen und dem Bach unterhalten will.“
„Du machst das auch?“, fragt Luisa perplex. Ihr Herz klopft Galopp. Oder sagt er das nur, damit es ihr nicht so peinlich ist? Es hat ein bisschen wie ein Scherz geklungen … Aber eigentlich ist das vollkommen egal, Daniel ist auf jeden Fall sehr, sehr … Nun, sie mag ihn. Sie mag ihn sogar sehr. Warum ist ihr das im Reitstall noch nie aufgefallen? Sie schluckt. Ihr Mund ist ganz trocken, und ihr Kopf fühlt sich so heiß an wie ein Lagerfeuer. Plötzlich spürt sie, dass sie Brüste hat. Schnell dreht sie Daniel den Rücken zu.
Ob er etwas gemerkt hat, weiß sie nicht. Ruhig fährt er fort:
„Das hab‘ ich mir wohl bei den Pferden so angewöhnt. Ich spreche immer mit ihnen. Beim Ausreiten bin ich viel in der Natur, allein, und da hab‘ ich entdeckt, dass Bäume und Steine und sogar der Bach reden. Ist doch eigentlich klar, oder?“
„Glaubst du, dass Bäume eine Seele haben?“, überlegt Luisa.
„Bestimmt haben sie eine Seele“, erwidert Daniel nachdenklich.
Jemand, mit dem sie reden kann! Jemand, der nicht über so etwas lacht … Luisa blickt ihn mit großen Augen an. Doch dann richtet sie sich nervös auf. „Ich muss zurück! Ich hab‘ nur für eine Stunde ausgemistet, und Herr Hauser – “
„Ist mein Vater. Und heute nicht da. Wir reiten jetzt erst- mal“, sagt Daniel bestimmt und steht auf. Luisa blickt ihn unsicher an.
„Ich nehme das mit der Uhrzeit nicht so genau“, beruhigt er sie.
Glücklich lässt sich Luisa den Wind durch die verschwitzten Haare wehen. Sie reiten über Felder und einen Hang hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter, sie entdecken eine Schafherde, und immer sind sie genau im gleichen Rhythmus. Sie traben gleichzeitig und galoppieren gleichzeitig und lassen die Pferde im Schritt über Felsen klettern. Die ganze Zeit hüpft etwas in ihr, hinter ihren Rippen und im Bauch, und das fühlt sich gut an. Neu. Aufregend.
Als sie am Abend nach Hause kommt, ist der Schmerz darüber, dass die Theatergruppe nicht stattfindet, zu einem sanften Ziehen im Magen geworden.
„Und wenn wir zu zweit Theater spielen?“, versucht Luisa am nächsten Morgen zwischen Bio und Mathe ihre Freundin zu überreden. Sie weiß, dass Verena keine der beiden anderen Schülerinnen war, die sich zur Theatergruppe angemeldet haben. „Wir könnten Maria Stuart und Elisabeth spielen, das ist Wahnsinn, wie die miteinander reden, oder Olivia und Viola in Was ihr wollt von Shakespeare, das ist sehr lustig, weil Olivia denkt, Viola wäre ein Mann und sie verliebt sich – “
„Luisa! Ich bin’s, deine Freundin Verena, das größte Untalent, wenn es ums Spielen geht“, lacht Verena, „ich kann mir nicht einen einzigen Satz merken, und in meiner Freizeit lese ich Speed-Champions und On the Road.“
Luisa hat nichts anderes erwartet, wenn sie ehrlich ist. Sie hat es sich nur so sehr gewünscht. Nein, Verena ist wirklich nicht die richtige Spielpartnerin. Luisa würde verzweifeln, wenn die Freundin den Text nicht behielt und ihn ablas und das so steif, dass man nicht mit ihr spielen konnte. Richtig spielen, mit dem Herzen und ganz echt.
Später blättert sie in einem Buch über Eleonora Duse. In der Bücherei hat sie einige Bände über diese große Schauspielerin gefunden, sogar einen mit Fotos. Die blickt sie jetzt sehnsüchtig an. Theater! Was für eine aufregende, geheimnisvolle Welt! Wenn sie doch nur ein Teil davon sein könnte! Nur einmal, ein einziges Mal, damit sie spüren kann, wie sich das anfühlt.
Auf der Bühne stehen …
3
Am nächsten Tag ist Luisa nicht sehr gut drauf. Ihre Mathearbeit ist mit 4-5 benotet worden. Sie findet Mathe blöd. Da gibt es keine Bilder, die sie sich vorstellen kann. Außerdem regnet es. Und sie hat in der Pause auf einen Kirschkern gebissen – ihr Zahn zieht wie verrückt. Mit hängenden Schultern geht sie vom Pausenhof zurück ins Schulgebäude. Noch drei Stunden! Und am Nachmittag kein Reitstall, weil Rackers Besitzer sein Pferd ausgerechnet heute selbst reiten will.
„Was machst du denn für ein Gesicht?“ Verena kommt ihr mit ihrem fröhlichen Bubenschritt auf dem Schulflur entgegen. „Das ist es doch, oder? Was du immer gewollt hast?“
„Was?“, fragt Luisa ein wenig gereizt.
„Na der Flyer da vorne!“
Warum spricht Verena eigentlich immer so superlaut? Luisa guckt sie verständnislos an.
„Sag bloß, du willst deine Chance verpassen“, lacht Verena, denn sie hat begriffen, dass ihre Freundin den Zettel noch gar nicht entdeckt hat. Sie packt Luisa am Handgelenk und zieht sie energisch zum Schwarzen Brett.
„Da!“ Aufgeregt deutet Verena auf ein schlichtes Schwarz-Weiß-Blatt, auf dem Luisa zwei Masken erkennen kann. Sie reißt die Augen auf:
14- oder 15-jähriges Mädchen für kleine Rolle im Stadttheater gesucht. Offenes Vorsprechen am 2. September um 15 Uhr.
Übermorgen!
„Was ist ein offenes Vorsprechen?“, wundert sich Luisa.
Verena zuckt die Achseln. „Ruf doch mal dort an“, schlägt sie vor. „Da steht die Telefonnummer.“
Luisa vergisst ihre 4-5, den Regen und das Ziehen im Zahn. Sie schreibt sich die Nummer auf. Die drei Schulstunden, die dann folgen, bekommt sie nicht so recht mit. Denn ihr Herz erfindet gerade einen ganz eigenartigen Beat, den es hartnäckig weiterentwickelt, während ihre Gedanken spazieren gehen. In den Fotos, die sie in dem Buch über Eleonora Duse gesehen hat.
Sie läuft von der Bushaltestelle nach Hause, als wollte sie für die Olympiade trainieren. Dadurch ist sie erstmal nicht so ganz in der Lage, ihren Namen deutlich zu nennen, als sie beim Theater anruft. „Ich bin 13, äh, 14 - Jahre alt und – möchte bei – Ihnen vorsprechen.“
Angestrengt lauscht sie in den Hörer. „Nein, ich – ich bin nicht aufgeregt. Gar nicht.“
Ein offenes Vorsprechen, sagt die Dame vom Theatersekretariat, ist ein Termin, zu dem jeder, der Lust hat, einfach hingehen kann. „Ohne Anmeldung.“
„Oh“, sagt Luisa. „Und wo bekomme ich den Text?“
Die Dame lacht. „Du bist ja schon ein richtiger Profi“, meint sie. „Die fragen auch immer nach dem Text. Aber übermorgen brauchst du keinen. Der Regisseur möchte, dass du improvisierst. Dabei kann er besser sehen, ob du für die Rolle geeignet bist.“
„Oh“, sagt Luisa wieder und bedankt sich. Improvisieren. Ob sie das kann? Nervös kaut sie auf einer Haarsträhne he- rum. Und überhaupt, was soll sie anziehen? Was ist denn das eigentlich für eine Rolle? Sie weiß ja gar nichts darüber. Ob sie im Theater ein Kostüm bekommt?
„Mama!“, ruft sie, aber dann überlegt sie es sich anders. Sicher hätte ihre