Luisas Chance. Carola Wegerle
ihr die Wangen hinunter, und sie schluckt die ganze Zeit und ist beinahe am Ersticken, weil sie so schnell läuft und nicht daran denkt, dass sie ein Taschentuch einstecken hat. Das war alles so peinlich! Nie mehr im Leben will sie sich so blamieren. Das Theater hat sie sich anders vorgestellt. Ganz anders!
5
„Und, wie war’s?“, fragt Verena am nächsten Morgen, gespannt wie ein Bogen vor dem Schuss. „Erzähl‘, erzähl‘, er- zähl‘!“ Ihre Augen leuchten. Luisa schüttelt nur lahm den Kopf. „Ich bin gar nicht drangekommen“, schwindelt sie, „da waren so viele.“ Sie vermeidet es, Verena dabei anzusehen.
„Aus der Traum“, vertraut sie am Nachmittag Racker an, als sie mit ihm einen Feldweg entlang galoppiert. Er scheint sie zu verstehen, denn er lässt seine Beine fliegen, und Luisa muss sich sehr konzentrieren, um im Sattel zu bleiben. So bleiben auch ihre Tränen in ihr drin.
Es beginnt zu regnen. Aus der Traum! Was war denn das gestern? So viele seltsame Menschen auf einmal hat sie noch nie gesehen. Sie ist froh, dass sie Racker hat - und ihre Arbeit im Reitstall. Dann wird sie eben Reitlehrerin! Sie wird jetzt keine Rollen mehr lernen, die spinnen doch alle am Theater. Das ist schließlich nicht das richtige Leben. Sie watet neben Racker durch einen Bach. Die runden, glitschigen Steine rollen bei jedem Schritt unter den Füßen weg, da will sie nicht auf seinem Rücken sitzen – der Wallach muss sich schon genug konzentrieren, die Hufe sicher aufzusetzen. Es ist ihr egal, dass ihre Reitstiefel nass werden.
Beinahe genießt sie die kalte Feuchtigkeit, die in ihre Socken dringt. Das ist so – wirklich. Was hat sie da gestern eigentlich gemacht? Was für Worte gesagt in dieser großen Blase, in der eine – andere - Welt war? Eine Welt, in der sie sich voll- kommen zu Hause fühlte, das muss Luisa erstaunt zugeben, und ihr Herz beginnt zu pochen. Aber das hier, das ist die richtige Welt, beruhigt sie sich. Sie lehnt sich an Racker, der den Kopf wendet und in ihre Haare bläst. Auf seinen Geruch und Wasser und Moos und Bäume will sie nie verzichten. Gut, dass sie abgehauen ist. Sie hätte doch sowieso keine Chance gehabt neben all den schönen, schon fast erwachsenen Mädchen. Wer die Rolle wohl bekommen hat? Nein, das Stück wird sie sich nicht ansehen. Das ist blöd, entscheidet sie, ein Jude, der Hitler entflieht und sich dann umbringt, wer will denn etwas so Furchtbares sehen?
„Ach Racker“, seufzt sie, „ wir machen einen Reitstall auf. Und dann kaufe ich dich und wir reiten jeden Tag aus. Und du bekommst die schönste Box in meinem Stall. Ich gebe Reitstunden. Vielleicht zusammen mit Daniel ...
Racker beginnt, Gänseblümchen zu rupfen, die am Rand des Baches wachsen. Luisa lächelt. Es sieht lustig aus, wie die Blümchen zwischen den samtigen Pferdelippen verschwinden. Sie drückt ihre Nase ins feuchte Pferdefell. „Aber der ist viel zu alt für mich“, seufzt sie.
Dann richtet sie sich auf und blickt ins Wasser des Baches, auf dem Lichtreflexe tanzen. „Egal. Du und die Schule und Verena, das ist doch wirklich genug.“
Aber abends fühlt sich alles dunkel und pelzig an, als sie alle Rollenbücher entschlossen auf einen Stapel legt und einen Karton dafür sucht. Sie findet keinen. Aber sie will diesen Teil ihres Lebens so schnell wie möglich fortschaffen, und so läuft sie trotz Nieselregen zum Supermarkt, der zwei Straßen entfernt ist, und stöbert in den leeren Kartons, bis sie einen in der richtigen Größe gefunden hat. Sie legt die Bücher hinein, streicht noch einmal zärtlich über den Einband der Johanna und schiebt dann das Thema Theater entschlossen unter einen alten Schrank im Keller.
„Was machst du denn im Keller?“, fragt ihre Mutter.
„Och, ich hatte noch ‘n paar Schulbücher vom letzten Jahr hier, die brauche ich nicht mehr“, lügt sie, kann aber nicht verhindern, dass ihr dicke Tränen über die Wangen laufen.
„Luisa!“, ruft ihre Mutter erschrocken. „Was ist denn los?“
„Nichts, Mama, wirklich“, leugnet sie ihren Kummer. Ihre Mutter blickt sie aufmerksam an. „Ist was mit der Schule?“ fragt sie. Luisa schüttelt den Kopf und flüchtet in ihr Zimmer. Dort wirft sie sich auf ihr Bett und schluchzt ihr Kuschelfohlen nass. Bilder vom Sommernachtstraum, Sätze aus der Jung-frau von Orléans – vor der großen Schlacht – und die große Zauberblase, die sie im Theater umhüllte, wirbeln in ihrem Kopf durcheinander. Fotos von der Duse als Medea. Wie Tobias, der Regisseur, sie angeguckt hat, als sie ganz selbstverständlich mitspielte. Ihr Traum, als Schauspielerin auf der Bühne zu stehen – alles ist jetzt weggepackt aus ihrer richtigen Welt, gut verschnürt im Keller. Es tut weh. Vor lauter Schluchzen muss sie würgen und husten, fast wie das Mädchen auf dem Theater-Klo.
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