Luisas Chance. Carola Wegerle
Was für ein Stück ist das überhaupt? fragt sich Luisa. Sie hat vergessen, danach zu fragen. Was, wenn sie sich ausziehen soll? Letztes Jahr war sie mit ihrer Mutter im Sommernachtstraum, immerhin ein Stück von Shakespeare, und da waren einige Schauspieler nackt. Zwar nur ganz kurz, und dunkel war es auch, aber sie waren nackt. Luisa schüttelt sich. Das könnte sie nicht!
„Verena!“, ruft sie ihrer Freundin entgegen, mit der sie Mathe lernen will. Verena ist gut in Mathe. Und sie hilft gern.
„Verena! Was mach‘ ich, wenn die sagen, ich muss mich ausziehen?“
Verena lacht. „Na, dann ziehst du dich eben aus“, sagt sie gelassen, „ist doch nicht so schlimm, oder?“
Luisa blickt sie groß an.
„Doch“, sagt sie leise.
„Ach was“, meint Verena, „zieh‘ einfach einen BH und ein hübsches Höschen an und stell‘ dir vor, du stehst im Bikini am Strand.“
„Blödsinn“, mault Luisa. „Am Strand haben alle Badesachen an, im Theater sind die anderen aber angezogen.“
„Außer euch Vorsprecherinnen“, kichert Verena. „He“, sagt sie dann, als sie Luisas düsteres Gesicht sieht, „jetzt mach‘ dir mal nicht in die Hosen. Ein Theater ist doch kein Pornofilm.“
Luisa verschluckt sich vor Entrüstung.
„Geh‘ einfach hin, und wenn du keine Lust auf das hast, was die von dir wollen, gehst du eben wieder. Du bist schließlich ein freier Mensch.“
4
Luisa atmet tief durch. Sie ist ein freier Mensch! Die Straße zieht sich. Sie hätte mit dem Bus zum Theater fahren können, aber heute braucht sie Bewegung und frische Luft und ein paar Minuten für sich, um Mut zu tanken.
Dann steht sie vor dem Theatereingang. Das große Portal zwischen den weißen Säulen ist geschlossen. Ein Schild hängt da: Vorsprechen. Darunter ist ein Pfeil, der nach links weist. Luisa steigt die Treppe aus weißem Marmor wieder hinab und geht links am Gebäude entlang. Weitere Schilder weisen ihr den Weg. Wie bei einer Schnitzeljagd, denkt sie. Sie muss einen großen Hof überqueren. Und dann weiß sie, wo sie hinmuss: Eine Gruppe junger Mädchen steht vor einem schlichten modernen Eingang mit einer Glastür. An der Tür hängt noch ein Schild, auf dem Vorsprechen steht, aber ohne einen Pfeil darunter. Luisa sieht genauer hin: Die Mädchen sind alle älter als sie! Der mühsam getankte Mut fließt schnell wieder aus ihr hinaus, auf die Pflastersteine des Hofs. Sie hat ihre Lieblingsjeans angezogen und ein rotes T-Shirt ohne je-den Aufdruck, weil sie sich plötzlich wegen der Sätze und Bilder auf ihren Shirts genierte. Die Mädchen, die da stehen, tragen knappe Hüfthosen, über denen Tattoos und nackte Bäuche schimmern. Und die Tops sind so knapp, dass sie auch als Bikini-Oberteile durchgehen könnten. Geschminkt sind sie, und viele rauchen.
Luisas Beine sind plötzlich schwer wie Blei. In Zeitlupe nähert sie sich dem Eingang. Die Tür geht auf, und ein blondes Mädchen kommt heraus. Sie stolpert über die Schwelle, weil sie High Heels trägt. Luisa staunt: so hohe hat sie ja nicht mal in Modeheften gesehen! Jetzt beginnt die Blondine zu schluchzen, dann hängt sie einem der Mädchen, die vor der Tür stehen, am Hals. Sicher die Freundin, denkt Luisa. Wenn nur Verena bei mir wäre! Wieso hat sie eigentlich ihre Freundin nicht gebeten mitzukommen? Ein braunhaariges Mädchen lächelt Luisa an. „Kommst du auch zum Vorsprechen? Geh‘ einfach rein.“ Das Mädchen hat dunkel geschminkte Augen. Aber sie sieht trotzdem nett aus, findet Luisa. Eine rotblonde, die knallenge Caprihosen trägt, wirft ihr einen schrägen Blick zu.
„Kindercasting ist erst morgen“ sagt sie mit quäkender Stimme, bevor sie losprustet. Zwei, drei andere Mädchen lachen mit.
Luisa bekommt keine Luft mehr. Sie spürt einen feuerroten Ball, ganz unten in ihrem Bauch, der hoch zu ihrem Herzen steigt und dann noch höher, bis zu ihrem Hals, und dann poltern sie heraus, die Wörter, die sie später ziemlich dumm findet: „Hau doch ab!“ Aber danach kann sie wieder frei atmen, und das gibt ihr Energie, genug Energie, um die Tür zu öffnen und hindurchzugehen.
„Guten Tag“, sagt eine junge Frau, die hinter einem Tisch sitzt, der rechts an der Wand steht. „Füll‘ das bitte aus.“
Sie schiebt Luisa ein Blatt Papier zu. Zögernd nimmt Luisa es in die Hand. Größe, Haarfarbe, Alter liest sie, Adresse, Instrumente, Sport, Agentur.
„Agentur?“, fragt sie verunsichert.
„Das ist nur für die Berufsschauspieler. Die haben alle eine Agentur“, klärt die junge Frau sie auf. Sie ist aufgestanden und hat jetzt eine Kamera in der Hand. Nein, oder doch? Tatsächlich, eine total altmodische Polaroidkamera. Damit macht sie ein Foto von Luisa, und als Luisa den Zettel ausgefüllt hat, klebt sie das Foto darauf.
„Du kannst dort drüben warten“, sagt sie und deutet auf eine Tür rechts im Gang, die jetzt aufgeht. Lautes Lachen schallt heraus. Es klingt aber irgendwie nicht echt. Ein Mädchen kommt heraus, mit einem Zettel auf dem Bauch und genauso stark geschminkt wie die meisten hier. Eigentlich alle außer Luisa. Sie ist mindestens Zwanzig, denkt Luisa. Sicher suchen die ein älteres Mädchen für die Rolle. Warum hat sie eine Nummer auf dem Bauch? 23, was bedeutet das?
„Halt, das hab‘ ich vergessen“, ruft die Frau am Tisch ihr hinterher. Luisa dreht sich um. Die Frau klebt ihr ein Blatt mit einer Nummer auf die Brust. 27, liest Luisa.
„Bin ich die Siebenundzwanzigste, die vorspricht?“, fragt sie ungläubig.
Die Frau nickt. „Bei 35 machen wir Schluss. Die da drin können nicht mehr!“
Sie deutet mit dem Kopf nach links. Dort sieht Luisa eine große eiserne Tür. Ruhe bitte Probe steht darauf. Die Tür wird jetzt aufgerissen, das Mädchen mit der Nummer 23 geht darauf zu, kalkweiß im Gesicht. Ein Mann erscheint im Türrahmen.
„Noch ‘ne Kanne Kaffee, bitte“, sagt er zu der Frau am Tisch. Die drückt ihm sofort eine Wärmhaltekanne in die Hand. Die Tür schließt sich hinter dem kalkweißen Mädchen, dem Mann und dem Kaffee. Ob die da drin 35 Mädchen auseinanderhalten können? Luisa bezweifelt es. Woher kommen auf einmal die Schmetterlinge in ihrem Magen? Und so viele? Sie entdeckt eine weitere Tür in dem langen Gang: WC steht darauf. Schnell öffnet sie die Tür, bleibt aber dann
wie angewurzelt stehen. Denn am Waschbecken übergibt sich stöhnend ein Mädchen. Der Glitzerstein in ihrem Bauchnabel wackelt jedes Mal. Jetzt wollen alle Schmetterlinge in Luisas Bauch auf einmal hinaus. Durch ihre Kehle. Schnell zieht sie die Tür wieder zu. Sie schluckt. Und schluckt. Jetzt nicht, sagt sie streng zu ihren Schmetterlingen.
Jetzt geht es nicht. Sie bleibt im Gang stehen, mit großen konzentrierten Augen, als sich die schwere Tür aus Eisen wie- der öffnet. Das kalkweiße Mädchen hat die Farbe gewechselt: sein Gesicht ist rot geworden. Mit eingezogenem Kopf huscht es an Luisa vorbei, durch die Tür zum Hof und weiter, weg von den anderen Mädchen, die immer noch dort stehen.
„Du da“, sagt der Mann, der vorhin Kaffee wollte, „komm’ doch mal her.“ Luisa blickt sich um. Aber hinter ihr steht niemand.
„Ich?“, fragt sie verdutzt. Ist sie denn schon dran?
„Ja, komm’ her.“ Der Mann winkt ihr ungeduldig zu. Luisa fragt sich, ob er vielleicht einen Magneten bei sich trägt, der sie anzieht – ganz leicht fühlt sie sich, als sie auf ihn zugeht. Der Mann schließt die Tür hinter ihr. Sie steht in einem großen Raum. In der Mitte liegt eine Matratze. Hinten an der Wand sitzen neun Leute. Sie blicken Luisa erwartungsvoll an.
„Wie heißt du?“, fragt ein Mann, der in der Mitte sitzt. Luisa geht auf ihn zu und sagt: „Luisa.“
„Süß“, sagt eine Frau. Luisa zieht hörbar den Atem ein. Was ist denn so süß daran, wenn sie ihren Namen sagt, ärgert sie sich. „Heimann“, fügt sie hinzu.
„In die wievielte Klasse gehst du?“
„In die achte“, antwortet Luisa. Sie muss sich dabei räuspern.
„Okay,