Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Gedichte. Eugenie Marlitt
Welch ein Kontrast zwischen ihr und Helenes Madonnengesichtchen, das, an den dunklen Plüsch des Sofas geschmiegt, Elisabeth heute mehr denn sonst an die Seerose denken ließ, wie sie ihr glänzendweißes Haupt träumerisch erhebt aus dem dunklen Grunde. Es lag aber auch heute ein seltsamer Schimmer über ihren Zügen. Ganz verwischt war der Ausdruck des Leidens freilich nicht, aber es brach ein voller Strahl des Glückes aus den Augen, und um die blaßroten Lippen spielte ein entzücktes Lächeln, so oft sie das volle Rosenboukett vom Schoße aufnahm, das Herr von Hollfeld bei seinem Kommen in ihre Hand gedrückt hatte. Er saß neben ihr und mischte sich einige Male in das Gespräch. Sobald er sprach, schwiegen sämtliche Damen und hörten mit sichtbarem Eifer und Interesse zu, obgleich seine Art zu sprechen nichts weniger als fließend war und, wie es Elisabeth vorkam, auch durchaus keinen originellen Gedanken verriet.
Es war ein schöner jungem Mann von vielleicht vierundzwanzig Jahren. Es lag eine große Ruhe in den edelgeformten Zügen, die in ihren Linien leicht auf männliche Festigkeit hätten schließen lassen; allein wer nur einmal fest und forschend in sein Auge gesehen hatte, dem imponierte die plastische Gesichtsbildung sicher nicht mehr. Diese Augen, obgleich groß und tadellos geschnitten, entbehrten der Tiefe und zeigten nie jenes meteorartige Aufleuchten, das uns oft den geistreichen Menschen verrät, selbst wenn er noch kein Wort gesprochen hat. Dieser Mangel kann übrigens ersetzt werden durch jenen milden dauerhaften Glanz, der von einem tiefen Gemüte ausgeht, und der uns nicht hinreißt, wohl aber anzieht und fesselt. Aber auch davon verrieten die großen schönen Blauen des Herrn von Hollfeld keine Spur.
Diese Beobachtung indes machten vielleicht nur sehr wenige; denn es war nun einmal, und zwar vorzüglich am Hofe zu L., hergebracht, in Herrn von Hollfeld einen Sonderling zu sehen, dessen meist schweigsamer Mund ein um so tieferes Innere verschließe, und am allerwenigsten würden wohl die Damen in und um Lindhof jene Ansicht unterzeichnet haben. Das bewies vor allen Frau von Lehrs sehr korpulente Tochter, indem sie sich jedesmal, als gelte es die Verkündigung eines Evangeliums, über die ängstlich zurückweichende Elisabeth hinüberbog, so oft Herr von Hollfeld den Mund aufthat. Aber auch sie schien gern ihr Licht leuchten zu lassen.
»Sind Sie nicht auch entzückt von den herrlichen Predigten, mit denen uns Herr Kandidat Möhring an den heiligen Festtagen erquickt hat?« fragte sie, sich an Elisabeth wendend.
»Ich bedaure, sie nicht gehört zu haben,« entgegnete Elisabeth.
»So haben Sie den Gottesdienst gar nicht besucht?«
»O ja … ich war in Begleitung meiner Eltern in der Dorfkirche zu Lindhof.«
»So,« sagte die Baronin Lessen, indem sie zum erstenmal den Kopf nach Elisabeth umwandte, wodurch diese ein äußerst höhnisches Lächeln zu sehen bekam, »und es war wohl recht erbaulich in der Dorfkirche zu Lindhof?«
»Gewiß, gnädige Frau;« entgegnete ruhig Elisabeth und sah fest in das spöttisch funkelnde Auge der Dame. »Ich war tief bewegt von den schlichten und doch so ergreifenden Worten des Predigers, der übrigens nicht in der Kirche, sondern außerhalb derselben, unter den Eichen seinen Vortrag hielt … Als der Gottesdienst beginnen sollte, da stellte es sich heraus, daß die kleine Kirche die massenhaft herbeigeströmten Zuhörer nicht fassen könne. Es wurde sofort eine Art Altar unter Gottes freiem Himmel errichtet, wie es schon oft geschehen sein soll.«
»Jawohl, ist leider bekannt,« unterbrach sie hier der Kandidat Möhring, der bis dahin nicht viel gesprochen und sich damit begnügt hatte, die Berichte der Frau von Lehr mit einem zuvorkommenden Lächeln oder einem beipflichtenden Kopfnicken zu begleiten. Jetzt aber war sein breites, etwas glänzendes Gesicht dunkelrot, als er, gegen die Baronin gewendet, spöttisch fortfuhr. »Gnädigste Frau Baronin, ja, es ist weit gekommen – die alten Götzen steigen hernieder in die heiligen Haine, und der Druide opfert ihnen unter den Eichen!«
»Ich wüßte nicht, daß dergleichen vorgekommen wäre, und hätte mir mit der lebhaftesten Einbildungskraft in jenem Augenblicke auch nicht vorstellen können, daß ich einem heidnischen Opferfeste beiwohne,« entgegnen Elisabeth. Sie lächelte, fuhr dann aber warm und ernster fort. »Mir war an dem herrlichen Pfingstmorgen, als der Orgelton aus den geöffneten Kirchenfenstern und Thüren quoll, und der ehrwürdige alte Mann unter dem lebendigen Grün der Bäume seine bewegte Stimme erhob, genau so zu Mute, wie da ich zum erstenmal in meinem Leben das Gotteshaus betreten durfte.«
»Sie scheinen ein vortreffliches Gedächtnis zu haben, mein Fräulein,« warf hier Frau von Lehr ein. »Wie alt waren Sie damals, wenn man fragen darf?«
»Elf Jahre.«
»Elf Jahre? … O, mein Gott, wie ist das möglich?« rief die alte Dame entsetzt. »Können das christliche Eltern wohl übers Herz bringen? … Meine Kinder kannten das Haus des Herrn schon in ihrer frühesten Kindheit, das müssen Sie mir bezeugen, bester Doktor!«
»Ja wohl, meine Gnädigste,« entgegnete dieser ernst. »Ich erinnere mich, daß Sie den Krupanfall, an welchem Sie leider Ihr zweijähriges Söhnchen verlieren mußten, einem Besuche des Kindes in der kalten Kirche zuschrieben.«
Elisabeth sah erschrocken ihren Nachbar an. Der Doktor hatte der anfänglichen Unterhaltung nur insofern beigewohnt, als er hier und da in trockener Weise Sarkasmen einstreute, die dem jungen Mädchen um so ergötzlicher waren, als die Baronin ihm jedesmal einen verweisenden Blick dafür zusandte. Als Elisabeth selbst zu sprechen begann, hatte sie auf ihn nicht mehr geachtet, ebensowenig wie die anderen, die nur das unglückliche Heidenkind im Auge hatten; deshalb bemerkte niemand, daß er sich innerlich fast zu Tode lachen wollte über die freimütigen Antworten des jungen Mädchens und deren Wirkung auf die Anwesenden. Jetzt kam er Elisabeth grausam vor durch seine Antwort; aber er mußte wohl seine Leute kennen, denn Frau von Lehr blieb ruhig und unbewegt und sagte salbungsvoll. »Ja, der Herr nahm den kleinen, frommen Engel zu sich, er war zu gut für diese Welt … Und so war und blieb Ihnen für die ersten elf Jahre Ihres Lebens das Reich des Herrn verschlossen?« wandte sie sich an Elisabeth.
»Nur sein Tempel, gnädige Frau … Ich wußte schon als kleines Kind die Geschichte des Christentums und lernte jedenfalls mit meinen ersten Gedanken das höchste Wesen kennen und verehren, denn ich weiß nicht, daß ich je gelebt hätte ohne die Vorstellungen von Gottes Dasein … Es ist meines Vaters Grundsatz, seine Kinder nicht zu früh das Haus Gottes betreten zu lassen; er meint, so junge Seelen seien unfähig, die hohe Bedeutung desselben zu verstehen, langweilen sich bei der Predigt, die sie mit dem besten Willen nicht fassen könnten, und so entstände von vornherein eine saloppe Anschauung … Mein kleiner Bruder ist sieben Jahre alt und war noch nicht in der Kirche.«
»O der glückliche Vater,« rief der Doktor, »daß er dies durchführen kann und darf!«
»Nun, was hindert Sie, Ihre Kinder moralisch wie die Pilze aufschießen zu lassen?« fragte malitiös die Baronin.
»Das kann ich Ihnen mit wenig Worten sagen, gnädige Frau. Ich habe sechs Kinder und bin nicht reich genug, einen Hauslehrer für sie zu halten. Sie selbst zu unterrichten, daran hindert mich mein Beruf; mithin bin ich gezwungen, sie in die öffentliche Schule zu schicken und mich mit ihnen zugleich in die Gesetze der Anstalt zu fügen – dahin gehört der Kirchenbesuch der Kleinen … Genau so verhält es sich mit einer anderen Ueberzeugung, die ich ebensowenig zur Geltung bringen darf – das ist das selbständige Bibellesen der Kinder. In diese kleinen Hände gehört die Bibel nicht, die, als Fundament unseres ganzen späteren Lebens und Wirkens, für die Jugend mit einer unnahbaren Glorie umgeben sein müßte … Das Kind, mit sehr seltenen Ausnahmen, sucht lieber Unterhaltung als ernste Belehrung, und hat den Trieb, gerade das, was ihm verschwiegen wird, zu enthüllen. Und so weiß ich, und streng beobachtende Lehrer wissen es auch, daß die Kleinen, das ehrwürdige Buch auf dem Schoße und von unachtsamen Eltern darüber belobt, nicht immer den Text der letzten Predigt, sondern auch anderes ausblättern und sich gegenseitig auf verpönte Worte aufmerksam machen, die die gebildete und moralische Mutter daheim nie zu ihren Ohren gelangen läßt, deren Sinn ihnen aber oft genug klar gemacht wird durch Kinder, die, in ungebildeter Sphäre lebend, von unvorsichtigen, rohen Eltern und Dienstbaren mehr erfahren, als ihnen gesund ist. Und gesetzt auch, das letztere fällt nicht vor und das Kind fragt die Mutter über die Bedeutung