Gesammelte Werke: Romane + Erzählungen + Gedichte. Eugenie Marlitt
den Verdruß über sein Benehmen gelesen hatte, aber sie meinte, dafür habe er sie nun lange genug angestarrt. Sie fühlte, daß sie endlich unter seinem Blicke tief errötete, und ärgerte sich darüber um so mehr, als dies ihm gegenüber, ganz gegen ihren Willen, schon einige Male der Fall gewesen war. Ein eigentümlicher Zufall wollte nämlich, daß sie beim Nachhausegehen von Schloß Lindhof Herrn von Hollfeld stets begegnete, sei es nun im Korridor, auf der Treppe, oder daß er plötzlich hinter einem Boskett hervortrat. Warum ihr dies zuletzt peinlich wurde und sie verlegen machte, wußte sie selbst nicht. Sie grübelte auch nicht weiter darüber und hatte die Begegnung meist vergessen, ehe sie noch daheim war.
Jetzt nun stand er da drunten in dem dunklen Gange. Ein schwarzer, tief herabgedrückter Hut bedeckte halb sein Gesicht, und den hellen Sommerrock hatte er mit einem dunklen Ueberzieher vertauscht. Er schien auf etwas gewartet zu haben und trat, sobald Elisabeth die letzte Stufe erreicht hatte, rasch auf sie zu, als ob er ihr etwas sagen wolle.
In dem Augenblicke erschienen Frau und Fräulein von Lehr droben auf der Treppe. »Ei, Herr von Hollfeld,« rief die alte Dame hinab, »wollen Sie denn noch eine Promenade machen?«
Die Züge des jungen Mannes, die Elisabeth auffallend belebt und erregt vorgekommen waren, nahmen sofort einen gleichgültigen, ruhigen Ausdruck an.
»Ich komme aus dem Garten,« sagte er in eigentümlich nachlässigem Tone, »wo ich mich in der milden Nachtluft noch ein wenig ergangen habe. Bringe Fräulein Ferber nach Hause,« gebot er dann dem Hausknechte, der eben zu diesem Zwecke mit einer Laterne aus der Domestikenstube trat, und schritt, nach einer Verbeugung gegen die Damen, in den Korridor zurück.
»Wie gut ist’s,« sagte Elisabeth eine Stunde später, als sie, am Bette der Mutter sitzend, ihren Bericht über die heutigen Erlebnisse schloß, »daß wir morgen Sonntag haben. Da wasche ich in unserer lieben, einfachen Lindhofer Dorfkirche den häßlichen Eindruck aus der Seele, den mir die letzten Stunden hinterlassen haben … Nie hätte ich geglaubt, daß ich beim Anhören eines Chorales je eine andere Empfindung haben würde, als die der Erhebung und Andacht. Heute aber überkam es mich wie Zorn, ja, ich fühlte mich im Innersten tief verletzt, als mitten in das Theetassengeklirr und, nachdem man stundenlang über dem guten Namen des Nächsten durchaus nicht liebevoll zu Gericht gesessen, plötzlich das Lied einfiel, das ich gewohnt bin, nur in weihevollen Stunden zu hören … Hinter diesem christlichen Eifer steckt eine maßlose Herrschsucht – das ist mir heute klar geworden; wenn aber andere so empfinden wie ich, dann steht es schlimm um die Siege dieser Bekehrer … gelt, Mütterchen, ich habe doch eigentlich keine Ader vom Rebellen? allein, heute zum erstenmal in meinem Leben fühlte ich eine unwiderstehliche Neigung zum Trotz und Widerspruch in mir.«
Schließlich gedachte sie noch des Herrn von Hollfeld und seines sonderbaren Benehmens in der Hausflur, woran sie die Bemerkung knüpfte, daß sie sich doch gar nicht denken könne, was er eigentlich von ihr gewollt habe.
»Nun, darüber wollen wir uns auch den Kopf nicht zerbrechen,« sagte Frau Ferber. »Sollte es ihm jedoch einmal einfallen, dir seine Begleitung beim Nachhausegehen anbieten zu wollen, so weise sie unter allen Umständen zurück. Hörst du, Elisabeth?«
»Aber, liebe Mama, was denkst du denn?« rief lachend das junge Mädchen. »Da steht eher des Himmels Einfall zu erwarten, als ein solches Anerbieten … Haben Frau und Fräulein von Lehr, die sich jedenfalls zu den vornehmen Leuten zählen, allein nach Hause gehen müssen, da wird er sich doch wahrhaftig meiner simplen Persönlichkeit gegenüber nicht herablassen.«
8.
Der Oberförster hatte ungefähr acht Tage nach Ankunft seiner Verwandten ein neues Hausgesetz erlassen, das, wie er sagte, von seinem Minister freudig begrüßt worden war, und kraft dessen der Familie Ferber die Verpflichtung auferlegt wurde, allsonntäglich im Forsthause das Mittagbrot einzunehmen … Das waren Freudentage für Elisabeth.
Lange vor dem ersten Glockenläuten wurde gewöhnlich der Kirchgang angetreten. Im wehenden weißen Kleide, die Seele geschwellt von jener süßen Ahnung der Jugend, als könne ein schöner, heiterer Tag auch nur Glück in sich schließen, schritt Elisabeth den Eltern voraus und freute sich stets auf den Moment, wo der goldene Knopf des Lindhofer Kirchleins tief drunten im Thale aus den grünen Wogen des Waldes aufleuchtete; wenn rechts und links auf dunklen, verschwiegenen Waldwegen die Kirchgänger der verschiedenen Filialen ihnen entgegenschritten und sich mit freundlichem Gruße und Handschlage zu ihnen gesellten, bis sie in zahlreicher Gesellschaft unter dem Geläute der Glocken den weiten Wiesenplan vor der Kirche betraten, wo meist der Onkel schon wartete. Er begrüßte sie dann schon von weitem mit glänzenden Augen und freudigem Hutschwenken. In jeder Bewegung seiner hohen Gestalt, in seiner ganzen Haltung offenbarte sich jene unbeugsame Wahrhaftigkeit, die vor dem Größten nicht zurückschreckt, jener Ausdruck von Manneskraft und Manneswillen, hinter dem wir große Entschlüsse, kühne Thaten, nie aber die zarten Empfindungen eines reichen Gemütes vermuten. Deshalb meinte auch Elisabeth, es sei unbeschreiblich rührend und ergreifend, wenn ein einzelner, kleiner Stern sein mildstrahlendes Gesichtchen aus dunklen Wolken strecke; genau so aber erscheine ihr der gerade, feste Blick des Onkels, sobald er in einem weichen Gefühle schmelze. Und sie hatte oft genug Gelegenheit, die Metamorphose zu beobachten; denn sie war sein Augapfel geworden. Er hatte ja nie Kinder gehabt und trug nun alle Vaterzärtlichkeit, deren sein reiches, volles Herz fähig war, auf sein liebliches Bruderskind über, das, wie er deutlich mit großem Stolze fühlte, ihm in vielem Beziehung geistig verwandt war, wenn auch hier alle jene Charakterzüge unter dem Hauche echt holdseliger Weiblichkeit sich verklärten.
Sie vergalt ihm aber auch seine Liebe mit kindlicher Hingebung und zärtlicher Fürsorge. Bald hatte sie alles das, was zu seinem häuslichen Wohlbehagen gehörte, herausgefunden und griff da, wo Sabines Scharfsinn oder ihre waltende Hand nicht mehr ausreichte, unmerklich und mit so vielem Takte ein, daß die alte treue Dienerin niemals verletzt wurde, während um den Onkel ein ganz neues, behagliches Leben aufblühte, da Elisabeth auch auf seine kleinen Liebhabereien geschickt einzugehen und ihnen Geschmack abzugewinnen wußte.
Auf dem Heimwege aus der Kirche, der dann gemeinschaftlich angetreten wurde, führte der Onkel Elisabeth gewöhnlich an der Hand, »wie ein kleines Schulmädchen« sagte sie, und es sah auch genau so aus. Die eben gehörte vortreffliche Predigt gab Veranlassung zu einem lebhaften Austausche neu angeregter Gedanken und Empfindungen; dazu sangen und schmetterten die Vögel im grünen Dickicht, als sei es ihr gutes Recht, hier auch mitzusprechen, und durch die dichten Baumkronen taumelten grüngoldene Lichter verklärend auf die Häupter der Wandelnden.
Am fernsten Ende des langen, dunklen Laubganges, denn es war ein sehr schmaler Holzweg, der vom Dorfe Lindhof nach der Försterei lief, blinkte wie ein goldener Punkt die helle, sonnenbeglänzte Lichtung, auf deren Mitte das alte Jagdhaus lag. Mit jedem Schritte näher wurde das kleine Bild deutlicher und klarer, bis man unter der Thür die harrende Sabine zu erkennen vermochte, wie sie, den einen Zipfel der weißen Küchenschürze quer aufgesteckt, die Hand schützend über die Augen haltend, nach den Heimkehrenden spähte und bei ihrem Erblicken eiligst in das Haus zurücklief; denn es galt ja, droben unter den Buchen hinter der dampfenden Suppenterrine in treuer Pflichterfüllung zu stehen, wie der gewissenhafte Festungskommandant auf seinen Wällen.
Heute aber hatte die alte Sabine ein besonders herrliches Mahl hergerichtet; neben der Suppenschüssel leuchtete eine purpurrote Pyramide, die ersten Walderdbeeren, die der kleine Ernst, aber auch die große Elisabeth mit lautem Jubel begrüßte. Der Oberförster lachte über den Enthusiasmus des großen und des kleinen Kindes und meinte, er dürfe doch nicht hinter Sabine und ihrer Extraüberraschung zurückbleiben; er wolle deshalb den Braunen einspannen und Elisabeth, wie längst versprochen, nach L. fahren, wo er ohnehin Geschäfte abzumachen habe. Der Vorschlag wurde von dem jungen Mädchen mit heller Lust aufgenommen.
Bei Tische erzählte Elisabeth vom gestrigen Abend. Der Onkel wollte sich ausschütten vor Lachen.
»Kourage hat der Doktor freilich gezeigt,« rief er lachend, »aber was hilft’s