Wir Seezigeuner (Abenteuer-Klassiker). Robert Kraft

Wir Seezigeuner (Abenteuer-Klassiker) - Robert Kraft


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Sonne und von Maikäfern und von Blumen. Und dann hast du den Kopf auf den Tisch gelegt und wie ein kleines Kind geheult. Du wolltest doch heute in die Country hinaus. Da habe ich dir schon Kragen und Vorhemdchen und Schlips zurechtgelegt, heute ist doch Sonntag, und dort steht dein Frühstück.«

      Eine dunkle Erinnerung überkam mich. In halb bewußtlosem Zustande hatte ich, wie es so manchmal geht, gestern abend gewußt, daß heute mein Geburtstag sei, hatte eine unbändige Sehnsucht nach Sonnenschein und blumigen Wiesen gehabt, die mich zwischen Häusern manchmal überfällt, und hatte mit Ernst für heute früh einen Ausflug in die Umgegend verabredet.

      »Aber auf Ernsten brauchst du nicht zu rechnen, der war wie ein Sack, und Geld hat er auch keins mehr, er hat noch Schulden gemacht, und überhaupt, das ist ja gar keine Gesellschaft für dich. Na hier, weil heute dein Geburtstag ist.«

      Und sie gab mir erst ein Päckchen Tabak – und dann noch zwei Schillinge.

      Mir stieg es ganz heiß zum Herzen empor.

      »Mary, du bist ein Engel – nein, du bist ein gutes Mädchen – wenn du nicht schon verlobt wärst… «

      Und ich zog sie an meine Brust, zog sie hintern Ofen, ich küßte sie, ich tat, was ich konnte. Ihr Bräutigam schlief ja noch – und dann band ich ihres Bräutigams Vorhemdchen, Kragen und Schlips um, und während ich den dickbelegten Butterschnitten zusprach, wichste Mary meine Stiefel, was sonst jeder selbst tun mußte. Aber heute war mein Geburtstag.

      Nach Leytenstone sollte ich gehen. Das sei die nächste grüne Umgebung, welche man ohne Eisen- und Pferdebahn, die Sonntags so früh noch nicht gingen, erreichen könne. Den Weg hatte mir Mary schon gestern abend beschrieben, sie tat es noch einmal. Die Beschreibung war einfach genug: immer geradeaus.

      Ich war sauber abgebürstet, machte in dem blauen Anzuge mit den Trichterhosen einen ganz manierlichen Eindruck. Daß Ernst nicht zum Aufstehen zu bewegen war, davon hatte ich mich bereits überzeugt.

      »Na, da adjüs, Dick,« sagte Mary. »Zum Mittagessen kannst du wieder dasein, und bringe mir ein paar Blumen von der Wiese mit.«

      »Die ganzen Taschen voll,« versetzte ich und machte mich, den qualmenden Kalkstummel zwischen den Zähnen, die Hände in den Hosentaschen, auf den Weg.

      Es ging den letzten Rest der Cablestreet entlang, dann durch Whitechapel Road, dann kam Bow, das alte, ursprüngliche London, dann das klassische Stratford.

      Hier machte ich einmal Halt. Unterdessen war es neun geworden, die Bierhäuser machten für zwei Stunden auf, ich zog mir eine Flasche Baß Ale zu Gemüte, wo einem hinterher die Kohlensäure so schön aufsteigt.

      Dann ging es weiter durch Leyton, und dann kam Leytenstone. Das letzte Haus dieser Vorstadt ist die altberühmte Wirtschaft ›the green man‹, wo ich mir eine zweite Flasche Baß Ale zu Gemüte zog.

      Und dann, gleich dahinter, begann die englische ›Country‹ in ihrer ganzen Lieblichkeit. Im üppigsten Graswuchs prangende Wiesen, durchsetzt von niedrigem Gestrüpp, und mit einzelnen, mächtigen Eichen bestanden, zum Schutze der weidenden Kühe gegen Sonne und Regen vom einstigen Walde stehen gelassen oder angepflanzt – das ist rings um London der Charakter der englischen Landschaft.

      Und im blauen Aether jubilierten die Lerchen.

      Ach, Lerchenschlag und blumige Wiesen! Das war’s, wovon ich an Bord auf einsamer Nachtwache manchmal träumte. Ich langer Lümmel war trotz aller Lasterhaftigkeit überhaupt etwas sentimental veranlagt. Zu meiner Entschuldigung diene, daß ich das Gymnasium bis zur Obersekunda besucht hatte. Wenn es nach meinen Eltern gegangen wäre, so wäre ich Pastor geworden.

      Eine halbe Stunde war ich so spaziert, als ich mich nach einem Ruheplätzchen umschaute. Eine mächtige Eiche, die etwa hundert Schritte vom Wege ab auf der Wiese stand, dünkte mir am geeignetsten dazu. Weiter abseits zog sich eine lange, hohe Mauer hin, jedenfalls eine Meierei umschließend.

      Es mochte ja verboten sein, die Wiesen zu betreten; aber was machte ich mir aus so etwas! Es trampelten doch auch Kühe darauf herum.

      Zwischen mir und der Eiche graste eine kleine Herde, und mir fiel sofort ein prachtvolles, schneeweißes Exemplar auf, mit gewaltigen Hörnern. Das war jedenfalls der Leitstier, der seinen Harem überwachte.

      Leser, war ich damals nicht ein glücklicher Mensch?

      Dieser schneeweiße Ochse sollte es sein, der meinem Leben eine ganz andere Wendung gab, der mich zum Freibeuter und Piraten machte, der mich von Stufe zu Stufe sinken ließ, bis zum steckbrieflich verfolgten Raubmörder herab!

      Und ich hatte dem Ochsen doch gar nichts getan.

      WIE ICH IN EINE FREMDE WELT HINEINSPRINGE.

       Inhaltsverzeichnis

      Also um nach jenem Baume zu kommen, mußte ich an der Herde vorüber. Furcht vor Rindern kannte ich nicht. Ich bin mit Kühen und Ochsen zusammen aufgewachsen, hatte aber noch niemals einen wildgewordenen Stier zu sehen bekommen und kannte dergleichen nur vom Hörensagen.

      Eben wegen meiner früheren Bekanntschaft interessierte ich mich für Kühe. Außerdem hatte ich überhaupt stets für schöne Formen ein empfängliches Auge – und nicht nur für menschlichweibliche Formen.

      Wirklich, dieser weiße Stier war ein Staatsexemplar. Ich blieb in der Nähe stehen, um mir den herrlichen Gliederbau näher zu betrachten.

      Ach, wäre ich doch nicht stehen geblieben!

      Die Tiere wendeten die Köpfe nach mir, schnaubten. Eine Kuh brüllte, eine zweite brüllte. Der Stier, immer starr nach mir blickend, peitschte die Lenden mit dem Schweif. Es war ein böser Blick, mit dem er mich betrachtete.

      »Na na, mein liebes Tierchen,« sagte ich freundlich, »ich will dir doch keine Konkurrenz machen …«

      Ja, hatte sich was! Es war ein englischer Ochse, der kein Deutsch verstand. Oder er hielt mich eben für einen Nebenbuhler und hörte in seiner Eifersucht überhaupt nicht.

      Plötzlich nimmt das Vieh den Kopf zwischen die Vorderbeine, den Schwanz kerzengerade hinten herausgereckt und so in voller Karriere auf mich los!

      Nun wußte ich, was es geschlagen hatte. Ich brauchte keine Erfahrung zu haben, um zu wissen, daß es nicht gut sei, mit solchen spitzen Korkziehern in Berührung zu kommen. Und meine einzige Bewaffnung bestand in dem silbernen Zahnstocher. So beschloß ich, die Defensive zu ergreifen, d. h., zu retirieren, mich lieber auf meine langen Beine zu verlassen.

      Also schleunigst die Pfeife aus den Zähnen genommen, kehrt gemacht und – heidi! – was mich meine Beine trugen nach dem Baume gerannt, in dessen Schatten ich hatte schlummern und träumen wollen.

      Daraus wurde nun natürlich nichts. Der Stier blieb mir auf den Fersen. Und leider war kein Ast so tief, daß ich ihn hätte ergreifen und mich hinaufschwingen können.

      Auch die Hoffnung trog mich, daß der Stier in seiner blinden Wut sich den Kopf an dem Stamme, hinter den ich schnell gesprungen war, zerschmettern oder sich doch wenigstens mit seinen spitzen Hörnern festnageln könne. Ich wollte vorsichtig hinter dem Stamme vorlugen, hatte aber nicht viel Zeit dazu, der Stier war schon hinter mir.

      Und das Karussellspiel begann. Wie lange es dauerte, weiß ich nicht. Die Rundgänge zählte ich nicht, und meine Taschenuhr war bei Samuel Cohn. Einholen tat er mich ja nicht. Dazu machte er viel zu große Bogen, während ich mich immer dicht am Stamme hielt, also einen kürzeren Weg beschrieb, und auf den genialen Gedanken, einmal schnell kehrt zu machen und mich in seine Korkzieher laufen zu lassen, kam das tolle Vieh nicht. Uebrigens war ich deshalb schon auf meiner Hut, blickte ab und zu immer einmal hinter mich, achtete auch auf das Pusten und Schnaufen.

      Aber so konnte das nicht weitergehen. Um zwölf mußte ich zum Mittagessen zu Hause sein. Nachservieren gab’s bei der Fatje Mine nicht. Doch was tun? Weit und breit kein Mensch zu sehen, der mir auch wenig hätte helfen


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