Wir Seezigeuner (Abenteuer-Klassiker). Robert Kraft
zusammenreimen konnten, anders ausdrücken: wenn dieses Schiff vor zweihundert Jahren als Wrack aufgefunden worden wäre, so hätte es nicht die geringste Verwunderung erregt.
Versteht der Leser, was ich hiermit sagen will?
Unter dem Proviant fehlte jede Konservenbüchse und alles andere, was die betreffende Industrie heute dem Schiffe liefert.
Wir fanden altertümliche Kleiderkisten mit altertümlichen Sachen, aber auch nicht ein einziges Messer moderner Fabrikation.
Wohl waren die vorhandenen Taue neu und frisch geteert, aber waren sie das vor zweihundert Jahren etwa nicht ebenfalls gewesen? Wären da Schinken und Salzfleisch nicht auch noch genießbar gewesen?
Gesetzt nun den Fall, dieses altertümliche Schiff war von einem Dampfer geschleppt worden. Matrosen hatten sich dennoch darauf befinden müssen, eine vollzählige Besatzung.
Das hatten aber doch keine zweihundertjährige Matrosen gewesen sein können! Man mußte doch wenigstens irgend etwas von ihnen finden, was in unserem Jahrhundert angefertigt worden war.
Nein, absolut nichts!
Dann mußte man geradezu annehmen, daß sie auch mit allem ausgestattet gewesen waren, wie man es vor zweihundert Jahren auf holländischen Schiffen gebraucht hatte.
Mein Gott, aber bis zum Rasiermesser brauchte man das doch nicht auszudehnen, sogar bis zur Seife! Denn diese Seife, die wir da fanden, erklärte Doktor Selo für ein chemisches Präparat, wie es heute gar nicht mehr hergestellt würde.
Und wie kam es nun, daß der Mann, welcher die Schlüssel zu allem besaß, wenn nicht der Kapitän, so der Besitzer, auf dem Schiffe zurückgeblieben war? Außerdem war es doch ein schwachsinniger Greis, war es schon vorher gewesen. Warum hatten die Matrosen ihn nicht mit Gewalt mitgehen heißen? Weshalb hatte er sich da so gemütlich auf seine Kleiderkiste hingesetzt? Und warum hatten die Matrosen das sonst noch ganz seetüchtige Schiff, dessen Masten nur weggebrochen waren, überhaupt verlassen? Denn das Steuerruder war noch in Ordnung, es waren auch Reservemasten vorhanden, die man zur Not hätte errichten können.
Kurz und gut, wir standen vor Rätseln, deren Menge wir gar nicht zusammenzählen konnten.
Wir gingen an eine weitere Untersuchung der Laderäume. Fracht war, wie zu erwarten gewesen, nicht vorhanden; als den nötigen Ballast hatte man Sand eingenommen, und zwar merkwürdigerweise roten.
»Sand?« meinte Doktor Selo, eine Probe, die er mit an Deck genommen, prüfend zwischen den Fingern reibend und dicht vor’s Auge bringend. »Das ist kein gewöhnlicher Sand, das ist … zerriebene Koralle.«
Ich mußte es bestätigen. Hieraus durften wir den Schluß ziehen, daß dieses Schiff aus australischen Gewässern kam, wo die Korallenbildung am meisten zu Hause ist – konnten uns aber auch irren, Korallen kommen noch anderwärts vor – und sonst war durch diese Entdeckung nur noch ein neues Rätsel hinzugekommen.
Der Seemann, besonders wenn er sein Kapitänsexamen bestanden, weiß doch mit so etwas Bescheid, und seine Bücher geben hierüber ausführliche Auskunft. Wie ich mich später nochmals vergewisserte, gibt es in der ganzen Welt keinen einzigen Hafen, in dem man als Ballast zermürbte Korallen einnehmen könnte. Das liegt ja auch sehr klar auf der Hand. Dieser feine Korallensand kommt nur an tiefen Stellen des Meeres vor, das lohnt sich nicht, den heraufzuholen. Koralle wird auch zu Kalk gebrannt, aber nur in größeren Stücken und immer nur gleich an Ort und Stelle.
Na, wir wollten vorläufig alle Grübeleien aufgeben. Wenn wir auch zuerst auf eine wertvolle Fracht gehofft hatten, so konnten sich meine Burschen doch noch immer freuen. Dieses Schiff besaß allein einen Holzwert von wenigstens 10 000 Pfund Sterling, dazu kam die kostbare Einrichtung und schließlich vor allen Dingen der Wert als Rarität. Der Eigentümer würde sich schon melden, und dann würde das Seegericht entscheiden, zu welchem Preise er uns das verlassene Wrack abzukaufen hatte, welche Summe dann unter uns rangmäßig geteilt wurde. Denn verlassen war das Wrack worden, daran änderte auch das Zurücklassen eines einzigen Mannes nichts; der war doch nicht fähig, das Wrack nach einem Hafen zu dirigieren, ganz abgesehen davon, ob dieser Schwachsinnige überhaupt zu der Besatzung gehörte.
Wohin wir das Wrack schleppten, das wollte ich erst mit meinen Steuerleuten besprechen.
Unterdessen hatte ich schon nach der ›Sturmbraut‹ semaphoriert, wozu ja die Arme genügen, ein großer Kutter sollte noch mit dem zweiten Steuermann herüberkommen, ausgerüstet mit seinem Sextanten und einigem anderen, was er brauchen könnte, wenn er mit zwei Matrosen allein auf dem Wrack zurückblieb, welches wir ins Schlepptau nehmen wollten, falls wir es nämlich bei Nacht einmal verlieren würden. Dann freilich konnten der Steuermann und zwei Matrosen es auch nicht dirigieren, aber ich konnte doch nicht meine ganze Mannschaft hergeben, und eine Hilfstakelage herrichten konnten wir auch nicht so ohne weiteres. Reservelampen und Petroleum hingegen waren vorhanden, wie ich mich gleich überzeugt hatte.
Der Kutter kam, der Steuermann gelangte unversehrt herüber, ich erteilte ihm Instruktionen, und dann begaben wir anderen uns alle wieder ins Boot hinab, bis auf zwei auserwählte Matrosen, welche also mit dem Steuermann an Bord des Wracks bleiben sollten.
Auch der Klabautermann kam mit uns. Ich bediene mich absichtlich dieses Namens, weil meine Matrosen mit unserer natürlichen Erklärung des Wracks durchaus nicht zufrieden waren. Wenn es nicht der fliegende Holländer war, so mußte es mit dem alten holländischen Schiffe doch eine andere Bewandtnis haben, ganz geheuer war das Ding jedenfalls nicht, und der glückbringende Klabautermann mußte das unbedingt sein, der sich nur einmal ganz besonders verkörpert hatte.
Die Ausschiffung ging glücklich vonstatten, der Klabautermann ließ sich willig durchs Wasser holen, dem war überhaupt alles ganz egal, auch seine Kleiderkiste nahmen wir mit, und die Jolle fuhr gleich ein dünnes Seil aus, an dem dann vom Wrack aus das starke Schlepptau eingeholt werden sollte.
Ohne weitere Zwischenereignisse gelangten wir an Bord unseres Schiffes zurück, die Verbindung durch das Schlepptau wurde hergestellt, wir konnten unsere Fahrt fortsetzen. Doch erst galt es, zu beraten, welchen Hafen wir wegen des Wracks aufsuchen wollten.
Zu dieser Beratung sollte es indessen gar nicht kommen.
EINE KLEINE SEESCHLACHT, UND WAS FÜR ENTDECKUNGEN WIR MACHTEN.
»Was hat der Schoner nur eigentlich vor? Der hält ja direkt auf uns zu!«
Ich hatte bisher nur beobachtet, daß sich das amerikanische Schiff nicht entfernte. Matrosen arbeiteten in der Takelage, auch an Deck war ein reges Leben.
Erst nachträglich kam mir zum Bewußtsein, wie auffällig es war, daß der Schoner uns beobachtete, was wir mit dem Wrack anfingen, anstatt als Segelschiff, nachdem ihm nun einmal die gute Prise entgangen war, den günstigen Wind auszunützen.
Jetzt kam er mit vollen Segeln auf uns zu.
»Paßt auf, die führen Böses gegen uns im Schilde!«
»Die wollen uns entern!«
»Mensch, sprich nicht so wahnsinnig!«
»Da – da – sie stellen Kanonen auf!«
So klang es durcheinander.
»Bei Thor und Odin!« setzte Blodwen noch hinzu. »Richard, ist es möglich, daß ein Handelsschiff ein anderes so ohne weiteres angreift?«
Ich blieb die Antwort schuldig. Nur mir selbst gab ich sie, mit Gedankenschnelle. In diesem Augenblick erinnerte ich mich der Behauptung eines alten Kapitäns, daß es nicht nur noch chinesische, malaiische und arabische Piraten gebe, sondern daß auch noch heute manches scheinbar friedliche Handelsschiff die Seeräuberei professionsmäßig betriebe.
Wir jungen, aufgeklärten Leute hatten damals den Alten verlacht. Und doch, warum sollte es nicht so sein?
Ein Schiff sieht auf dem einsamen