Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
einem großen Fenster eines Ringstraßenrestaurants, Einkäufe und Bestellungen bei seinen Lieferanten gemacht, Heinrich aufgesucht, den er nicht zu Hause traf, und war endlich dem plötzlichen Einfall gefolgt, seine Dankvisite bei Doktor Stauber abzustatten.
Nun spazierte er langsam weiter, durch die Straßen, die ihm so wohlbekannt waren, und doch schon den Hauch der Fremde für ihn hatten; und er dachte an die Stadt, aus der er kam und in der er sich rascher heimisch werden fühlte, als er erwartet hatte. Graf Malnitz war ihm vom ersten Augenblick an mit viel Freundlichkeit entgegengekommen; er trug sich mit dem Plan, die Oper in modernem Sinn zu reformieren und wollte sich für seine weitgehenden Absichten in Georg, wie es diesem schien, einen Mitarbeiter und Freund heranziehen. Denn der erste Kapellmeister war wohl ein tüchtiger Musiker, aber heute doch schon mehr Hofbeamter als Künstler. Als Fünfundzwanzigjähriger war er herberufen worden und saß nun seit dreißig Jahren in der kleinen Stadt, ein Familienvater mit sechs Kindern, angesehen, zufrieden und ohne Ehrgeiz. Bald nach seiner Ankunft, in einem Konzert, hatte Georg Lieder singen gehört, die vor langer Zeit den Ruf des jungen Kapellmeisters beinahe durch die ganze Welt getragen hatten; Georg vermochte diese heute längst verhallte Wirkung nicht zu begreifen, dennoch äußerte er sich dem Komponisten gegenüber mit großer Wärme, aus einer gewissen Sympathie für den alternden Mann, in dessen Augen der ferne Glanz einer reicheren und hoffnungsvolleren Vergangenheit zu leuchten schien. Georg fragte sich manchmal, ob der alte Kapellmeister überhaupt noch daran dachte, daß er einst als ein zu hohen Zielen Berufener gegolten hatte? Oder ob auch ihm, wie so manchem andern der Eingesessenen, die kleine Stadt als ein Mittelpunkt erschien, von dem die Strahlen der Wirksamkeit und des Ruhms weit in die Runde fielen? Sehnsucht nach größern und weitern Verhältnissen hatte Georg nur bei wenigen gefunden; manchmal schien es ihm, als behandelten sie vielmehr ihn mit einer Art von gutmütigem Mitleid, weil er aus einer Großstadt, und ganz besonders, weil er aus Wien kam. Denn wenn der Name dieser Stadt vor den Leuten erklang, merkte es Georg ihren vergnügten und etwas spöttischen Mienen an, daß, gesetzmäßig beinahe wie die Obertöne auf den Grundton, sofort gewisse andre Worte mitzuschwingen begannen, auch ohne daß sie ausgesprochen wurden: Walzer … Kaffeehaus … süßes Mädel … Backhendel … Fiaker … Parlamentsskandal. Georg ärgerte sich manchmal darüber und war sich im übrigen bewußt, das möglichste zu tun, um den Ruf seiner Landsleute in Detmold zu verbessern. Man hatte ihn berufen, weil der dritte Kapellmeister, ein noch junger Mensch, plötzlich gestorben war, und so mußte Georg schon am ersten Tag in dem kleinen Probesaal am Klavier sitzen und zum Gesang begleiten. Es ging vortrefflich; er freute sich seiner Begabung, die sicherer und stärker war, als er selbst vermutet hatte, und in der Erinnerung war ihm, als hätte auch Anna sein Talent ein wenig unterschätzt. Überdies war er mit seinen Kompositionen ernster beschäftigt als je. Er arbeitete an einer Ouvertüre, die aus Motiven zu der Bermannschen Oper entstanden war, hatte eine Violinsonate begonnen; und das Quintett, das mythische, wie Else es einmal genannt hatte, war nahezu vollendet. Noch diesen Winter sollte es aufgeführt werden, in einer der Kammersoireen, die der Konzertmeister des Detmolder Orchesters leitete, ein begabter junger Mensch, der einzige, dem Georg sich bisher in dem neuen Aufenthaltsort persönlich etwas näher angeschlossen hatte und mit dem er im »Elefanten« zu speisen pflegte. Noch bewohnte Georg in diesem Gasthof ein schönes Zimmer, mit der Aussicht auf den großen, mit Linden bepflanzten Platz und verschob es von Tag zu Tag eine Wohnung zu mieten. Es war ja doch ungewiß, ob er im nächsten Jahr noch in Detmold sein würde, und überdies hatte er das Gefühl, als müßte es Anna verletzen; wenn er sich, wie zu längerem Aufenthalt, als Junggeselle häuslich einrichten wollte. Doch über Zukunftsmöglichkeiten aller Art hatte er in seinen Briefen an sie kein Wort geäußert, so wie sie wieder unterließ, ungeduldige oder zweifelnde Fragen an ihn zu richten. Sie teilten einander beinahe nur Tatsächliches mit: sie schrieb von ihrer allmählichen Wiederkehr ins alte Lebensgetriebe, er von all dem Neuen, in das er sich erst hineinfinden mußte. Aber obwohl es so gut wie nichts gab, das er ihr zu verschweigen hatte, so ging er doch über manches, das leicht zu Mißverständnissen Anlaß bieten konnte, mit absichtlicher Flüchtigkeit hinweg. Wie sollte man auch die seltsame Stimmung in Worte fassen, die in dem halbdunkeln Zuschauerraum webte, vormittags, bei den Proben, wenn der Geruch von Schminke, Parfüm, Kleidern, Gas, altem Holz und neuen Farben von der Bühne ins Parkett herunterkam; – wenn Gestalten, die man nicht gleich erkannte, in Alltagstracht oder Kostüm zwischen den Reihen hin und her huschten, wenn irgend ein Atem einem in den Nacken wehte, der schwül war und duftete? Oder wie sollte man einen Blick schildern, der aus den Augen einer jungen Sängerin herniederglänzte, während man eben von den Tasten zu ihr aufschaute …? Oder, wenn man diese junge Sängerin am hellichten Mittag über den Theaterplatz und die Königsstraße bis vor ihr Haustor begleitete und bei dieser Gelegenheit nicht nur über die Partie der Micaela sprach, die man soeben mit ihr studiert hatte, sondern auch über allerlei andre, wenn auch ziemlich harmlose Dinge; konnte man das einer Geliebten nach Wien berichten, ohne daß sie zwischen den Zeilen Verdächtiges gesucht hätte? Und auch wenn man betont hätte, daß Micaela verlobt sei, mit einem jungen Arzt aus Berlin, der sie anbetete, wie sie ihn, so wäre es kaum besser geworden; denn das hätte ja ausgesehen, als fühlte man sich verpflichtet, abzulenken und zu beruhigen.
Wie sonderbar, dachte Georg, daß sie gerade heute Abend wirklich die Micaela singt, die ich mit ihr studiert habe, und daß ich hier denselben Weg spaziere, nach Mariahilf hinaus, den ich vor einem Jahr so oft und so gern gegangen bin. Und er dachte eines ganz bestimmten Abends, da er Anna von da draußen abgeholt hatte, mit ihr zusammen in stillen Straßen herumspaziert war, unter einem Haustor komische Photographien betrachtet hatte, und endlich auf den kühlen Steinfliesen einer alten Kirche gewandelt war, in leisem, wie ahnungsvollem Gespräch über eine unbekannte Zukunft … Nun war alles ganz anders gekommen, als er es geträumt hatte. Anders … Warum schien ihm das so? … Was hatte er damals denn erwartet …? War dies Jahr, das seither vergangen war, nicht wunderbar reich und schön gewesen, mit seinem Glück und mit seinen Schmerzen? Und liebte er Anna heute nicht besser und tiefer als je? Und in der neuen Stadt, hatte er sich nicht manchmal nach ihr gesehnt, so heiß, wie nach einer Frau, die ihm noch niemals gehört hatte? Das Wiedersehen von heute früh, in der übeln Stimmung einer grauen Stunde, mit seiner matt verlegenen Zärtlichkeit, das durfte ihn doch nicht irremachen …
Er war zur Stelle. Als er zu den erleuchteten Fenstern aufsah, hinter denen Anna ihre Lektion erteilte, kam eine leichte Ergriffenheit über ihn. Und als sie in der nächsten Minute aus dem Tor trat, im einfachen, englischen Kleid, den grauen Filzhut auf dem reichen, dunkelblonden Haar, ein Buch in der Hand, ganz so wie vor einem Jahr, da durchströmte ihn mit einmal ein unerwartetes Gefühl von Glück. Sie sah ihn nicht gleich, da er im Schatten eines Hauses stand, spannte ihren Schirm auf und ging bis zur Ecke, wo er im vorigen Jahr zu warten gepflegt hatte. Er blickte ihr eine Weile nach und freute sich, wie vornehm und wie brav sie aussah. Dann folgte er ihr rasch, und nach ein paar Schritten hatte er sie eingeholt.
Sie hatte ihm gleich die Mitteilung zu machen, daß sie nicht mit ihm in die Oper gehen könnte; der Vater hätte sich nachmittags gar nicht wohl befunden.
Georg war sehr enttäuscht. »Willst du nicht wenigstens auf den ersten Akt mit mir hineingehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, so was tu ich nicht gern. Da ist’s schon besser, du schenkst den Sitz einem Bekannten. Hol dir doch Nürnberger oder Bermann ab.«
»Nein«, erwiderte er. »Wenn du nicht mitgehst, geh ich lieber allein. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut. Mir persönlich läge gar nicht so viel an der Vorstellung. Ich bliebe lieber mit dir zusammen… meinetwegen sogar bei euch oben; aber ich muß hineingehen, ich habe ja – Bericht zu erstatten.«
»Natürlich mußt du hineingehen«, bekräftigte Anna; und sie fügte hinzu: »Ich möchte dir auch nicht zumuten einen Abend bei uns oben zuzubringen, es ist wirklich nicht besonders heiter.«
Er hatte ihr den Schirm aus der Hand genommen, hielt ihn über sie, und sie hing sich in seinen Arm.
»Du Anna«, sagte er, »ich möchte dir einen Vorschlag machen.« Er wunderte sich, daß er nach einer Einleitung suchte, und begann zögernd: »Meine paar Tage in Wien sind naturgemäß so was Unruhiges, Zerrissenes – und jetzt kommt noch diese gedrückte Stimmung bei euch oben dazu… wir haben wirklich gar nichts voneinander, findest du nicht?«
Sie