Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman. Patricia Vandenberg
und sowohl Fee als auch Marla starrten ihm nach.
»Was für ein herzloser Mensch«, murmelte die werdende Mutter.
»Das würde auch keine Operation der Welt ändern«, konnte Fee dieser Ansicht nur zustimmen.
*
Auch Nina Claas war zu dieser Zeit in der Behnisch-Klinik. Nach dem geglückten Eingriff hatte sie im Bett neben ihrem Sohn übernachtet und saß jetzt bei Lukas. Sie hatten gemeinsam gefrühstückt – Lukas hatte immerhin ein paar Löffel Haferflocken mit Milch gegessen –, und nun las sie ihm aus seinem Lieblingsbuch vor, das sein Vater vor der Arbeit in die Klinik gebracht hatte.
» … raschelte es verdächtig im Gebüsch. Erschrocken fuhr Tim herum …«
Ein Geräusch aus dem Bett ließ Nina aufblicken. Fast sofort stockte ihr der Atem. Lukas‘ Gesicht war verzerrt, und er starrte seine Mutter aus großen Augen an, während zunächst nur sein Arm unkontrolliert zuckte. Doch der Krampf erfasste schnell den ganzen Körper. Speichel rann Lukas aus dem Mund, und er gab beängstigende Geräusche von sich. Nina erschrak so sehr, dass sie das Buch fallen ließ und vom Stuhl aufsprang.
»Lukas! Um Gottes willen! Lukas! Was ist mit dir?« Sie beugte sich über ihren krampfenden Sohn, wagte es aber nicht, ihn anzufassen aus Angst, ihm weh zu tun oder etwas falsch zu machen. »Hilfe! Jemand muss uns helfen!« Der Schock saß ihr in den Gliedern, und mechanisch drückte sie auf den Notknopf am Krankenbett.
Kurze Zeit später eilte Schwester Elena herein. Mit einem Blick erfasste die erfahrene Schwester, selbst Mutter zweier Kinder, die Situation.
»Frau Dr. Norden kommt sofort!«, beeilte sie sich zu versichern, als der Anfall endlich abebbte. »Ich habe sie schon informiert. Sie war im Aufenthaltsraum der Ärzte nur ein paar Zimmer weiter.«
Elena hatte noch nicht ausgesprochen, als Fee ins Zimmer stürzte. Lukas‘ Zustand hatte sich inzwischen fast normalisiert.
»Sieht ganz nach einem epileptischen Anfall aus«, berichtete Schwester Elena von ihren Eindrücken.
»Wie kann das sein?«, dachte Fee laut nach, während sie Lukas untersuchte und abhörte. »Ein epileptischer Anfall wird immer durch Probleme im Gehirn ausgelöst. Aber Lukas wurde wegen einer Lungenentzündung eingeliefert und hatte zudem Empyeme in der Lunge …« Schnell wurde ihr der Zusammenhang klar. »So einen Fall hatte Daniel schon mal. Betroffen war ein älterer Herr, der nach einer schweren Lungenentzündung unter einem Hirnabszess litt«, erinnerte sie sich an den dramatischen Vorfall vor etwas mehr als einem Jahr. »Damals hat Daniel viel recherchiert und herausgefunden, dass Hirnabszesse häufiger nach einer Lungenentzündung entstehen.«
Schwester Elenas Augen wurden schmal.
»Das klingt aber gar nicht gut.«
Das musste Fee leider bestätigen.
»Stimmt. Bitte informieren Sie die Radiologie. Wir brauchen sofort ein CT vom Schädel. Außerdem brauche ich Mario«, verlangte sie die Unterstützung ihres Bruders Dr. Mario Cornelius, dem Chef der Pädiatrie.
»Der Termin ist kein Problem. Aber mit Dr. Cornelius kann ich im Augenblick nicht dienen. Er ist im OP.«
Nur mit Mühe konnte Felicitas Norden ein Seufzen unterdrücken.
»Na gut, dann schicken Sie eben Lammers«, fügte sie sich notgedrungen in ihr Schicksal, ehe sie zur Eile mahnte und Lukas‘ Bett höchstpersönlich in die Radiologie schob, während sich Elena um die aufgelöste Mutter kümmerte.
*
Pascal Lüders eilte den Klinikflur hinunter, als er aus dem Aufenthaltsraum, in dem er tags zuvor Kaffee geholt hatte, leises Schluchzen hörte. Er war auf dem Weg durch die Kinderstation zur Gynäkologie und in Eile. Trotzdem hielt er inne und warf einen Blick in den Raum. Eine Frau saß auf einem der Sessel und weinte vor sich hin.
Um sie nicht zu erschrecken, räusperte sich der Galerist, und Nina Claas blickte auf.
»Entschuldigen Sie die Störung, aber kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte er.
»Beten Sie für mein Kind!«, ließ die Antwort nicht lange auf sich warten.
Pascal erschrak. Mit dieser drastischen Bitte hatte er nicht gerechnet. Er warf einen Blick auf die Uhr und beschloss, kurz bei der Unbekannten zu bleiben.
»Darf ich mich setzen?«
Nina nickte, und er nahm im Sessel neben ihr Platz. Vorher hatte er eine Packung Taschentücher auf der Jacke gezogen und reicht ihr eines davon.
»Danke, Sie sind sehr nett.«
Doch der Galerist winkte ab.
»Wir alle haben einen Grund, warum wir in diesem Krankenhaus sind. Schon deshalb sollten wir zusammenhalten und uns gegenseitig stützen.« Voller Dankbarkeit dachte er daran, wie viel Glück er und seine Freundin gehabt hatten. Schon bald würde Marla entlassen werden, und in ein paar Monaten konnte er sein Kind in den Armen wiegen. Wenn das nicht Grund genug war, anderen, mit denen es das Schicksal nicht so gut meinte, Trost zu spenden. »Was fehlt Ihrem Kind?«, erkundigte er sich.
Nina betrachtete den Fremden mit sichtlicher Verwunderung. Seine Worte hatten tatsächlich vermocht, sie wenigstens ein bisschen zu trösten.
»Lukas hatte vorhin einen epileptischen Anfall. Den ersten seines Lebens«, beantwortete sie seine Frage. »Nun vermuten die Ärzte, dass er Eiterherde im Hirn haben könnte. Er ist gerade im CT. Ich warte schon so lange. Das kann doch kein gutes Zeichen sein.« Die Sorge stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Nachdem Schwester Elena schweren Herzens zu ihrer Arbeit zurückgekehrt war, wartete sie allein auf die Diagnose.
»Das klingt wirklich erschreckend.«
»Ist es auch. Wenn sich diese Prognose bewahrheitet, muss Lukas sofort operiert werden«, wiederholte die Mutter das, was ihr Dr. Lammers vor der Untersuchung erklärt hatte. »Die Abszesse brauchen Platz und können Teile des Gehirns einklemmen. Das würde bedeuten, dass Lukas behindert werden könnte.« Es tat Nina gut, mit Pascal zu sprechen, und als er ihre Hand nahm, empfand sie die Wärme wie einen stummen Trost.
»Das wäre wirklich furchtbar. Aber Sie dürfen nicht vergessen, dass diese Klinik eine der besten des Landes ist. Die Ärzte hier sind hervorragend ausgebildet und werden alles tun, um Lukas vor diesem Schicksal zu beschützen.« Es wurde Zeit, die verzweifelte Mutter zu verlassen und Marla zu besuchen. Schweren Herzens stand Pascal auf und nickte Nina zu. »Sie müssen nur daran glauben und stark sein für Lukas! Dann wird alles gut werden.«
Als er ihr die Hand reichte, bedankte sich Nina Claas für seinen Trost und sah ihm nach, wie er das Zimmer nachdenklich und in sich gekehrt verließ. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie ihn gar nicht nach seinem Schicksal gefragt hatte. Doch dazu war es nun zu spät.
*
Nur ein paar Minuten später betrat der Galerist das Zimmer seiner Freundin.
»Hallo, meine Prinzessin«, begrüßte er sie. Eigentlich hatte er ihr erzählen wollen, wie einsam die Nacht ohne sie gewesen war. Doch seine Gedanken weilten immer noch bei Nina Claas und ihrem Sohn Lukas. »Stell dir vor, was ich gerade erlebt habe.« Er setzte sich zu seiner Freundin ans Bett und berichtete über diese Begegnung. Derart berührt von Ninas Geschichte bemerkte er nicht, wie blass Marla war. Erst als er geendet hatte, seine Freundin aber beharrlich schwieg, nahm er endlich Notiz von ihrem Zustand. »Du sagst ja gar nichts. Geht’s dir nicht gut?«
»Bitte nimm mich in den Arm«, verlangte sie mit Grabesstimme.
»Aber was ist denn?« Sofort kam er ihrer Bitte nach und schloss sie in die Arme. Es dauerte nicht lange und er spürte, wie sein Hemd feucht wurde. »Was hast du, Prinzessin?«
»Unserem Baby geht es auch nicht gut. Es hat einen Herzfehler und muss gleich nach der Geburt operiert werden.«
Es dauerte einen Moment, bis die Bedeutung dieser Nachricht in Pascals Bewusstsein ankam. Alles Blut wich aus seinem Gesicht, und