Dr. Norden Staffel 6 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Espresso und einer hausgemachten Joghurtcreme an den Tisch zurückgekehrt.
»Wir haben von der Diagnose gehört«, gestand sie und löffelte Zucker in ihre Tasse. »Glaubst du denn nicht daran, dass euer Sohn gesund werden wird?«
»Dazu müsste ich schon sehr naiv sein, findest du nicht? Im Gegensatz zu Marla verschließe ich nicht die Augen vor der Tatsache, dass Fynn behindert zur Welt kommen wird. Dr. Lammers hat mir die Risiken deutlich vor Augen geführt.«
Als Danny diesen Namen hörte, verdrehte er die Augen, sagte aber nichts.
Ganz im Gegensatz zu seiner Freundin. Sie saß Pascal gegenüber. Eine steile Falte stand auf ihrer Stirn.
»Und du glaubst, dass ein behinderter Mensch nicht glücklich sein kann?«, funkelte sie ihren Gast an.
Pascal erschrak. Tatjana ging so selbstverständlich mit ihrer Einschränkung um, dass er ihre Sehbehinderung völlig vergessen hatte.
»Oh, Tatjana, natürlich. Es tut mir leid, so meinte ich das nicht«, stammelte er eine Entschuldigung. »Aber wir sprechen hier ja auch nicht von einer körperlichen, sondern möglicherweise auch geistigen Einschränkung«, warb er um ihr Verständnis. »Marla und ich wissen einfach nicht, was da auf uns zukommt. Vielleicht wird unser Sohn nie sprechen. Vielleicht wird er nie allein essen können. Es kann auch passieren, dass er ein Leben lang im Rollstuhl sitzen muss. Ich weiß nicht, ob ich damit umgehen könnte.«
Während er sprach, legte Danny die Hand auf die seiner Freundin.
»Wir verstehen, was du meinst. Tatjana leidet an einer Erbkrankheit. Deshalb will sie keine eigenen Kinder bekommen. Im Grunde genommen handelt es sich um ein und dieselbe Angst. Keiner von uns will einen geliebten Menschen leiden sehen. Und doch muss jeder so eine Entscheidung für sich allein treffen. Die kann einem keiner abnehmen.«
Pascal presste die Lippen aufeinander und nickte.
»Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr ich mir immer eine eigene Familie gewünscht habe«, gestand er nach einer Weile heiser. »Aber jetzt kommt mir plötzlich alles so sinnlos vor.«
»Soweit ich Dad verstanden habe, gibt es aber doch durchaus noch Hoffnung für euer Kind, oder?« Danny war weit davon entfernt, die Flinte ins Korn zu werfen.
Doch Pascal Lüders war anderer Meinung.
»Nach allem, was ich von Dr. Lammers gehört habe, ist mir der Mut abhandengekommen«, gestand er und senkte den Kopf. »Es tut mir leid.«
*
Im Gegensatz zu Pascal Lüders hatten Lukas‘ Eltern den Mut nicht verloren. Angespannt warteten sie auf das Ende der Operation. Sie waren nicht allein mit ihrer Nervosität. Auch die Klinikchefin Jenny Behnisch interessierte sich für diesen schwierigen Fall und ließ sich von einer Schwester über die Fortschritte im OP informieren. Als das Ende des Eingriffs abzusehen war, eilte sie an den Ort des Geschehens. Unterwegs traf sie auf Volker Lammers.
»Ach, sieh mal einer an, die Chefin!«, begrüßte er sie freundlich wie immer. Sein Verhalten ihr gegenüber war stets einwandfrei, sodass sie die Beschwerden der Kollegen nur bedingt nachvollziehen konnte. Natürlich nahm sie die Meinungen ernst, doch noch überwogen die Erfolge, die der Arzt für sich verbuchen konnte. »Wohin des Wegs?«, fragte er.
»In OP 2 wird gerade der kleine Claas operiert«, gab Dr. Behnisch bereitwillig Auskunft. »Ich will von Mario selbst hören, wie der Eingriff verlaufen ist und welche Prognose er abgibt.«
»Ach, die Hirnabszesse!«, gab Dr. Lammers zu verstehen, dass er wusste, wovon Jenny sprach. »Der arme Junge. Wenn er früher in die Klinik gekommen wäre, hätten wir ihm viel ersparen können.«
Er hatte noch nicht ausgesprochen, als er merkte, dass dieser Satz einer zu viel gewesen war. Sensibilisiert durch die Berichte ihrer Mitarbeiterin durchschaute die Klinikchefin seine Absicht sofort.
»Sie wissen so gut wie ich, dass das eine reine Hypothese ist«, machte sie gar nicht erst den Versuch, ihren Unwillen zu verbergen. »Nachdem nicht jede Lungenentzündung einen Hirnabszess nach sich zieht, hätten wir Lukas stationär genauso behandelt, wie der Kollege Norden es ambulant getan hat. Und wer kann schon wissen, ob sich nicht die fremde Umgebung zusätzlich negativ auf Lukas‘ Gesundheitszustand ausgewirkt hätte?«
»Schon gut, schon gut.« Abwehrend hob Lammers die Hände. »Ich wollte ja nur anmerken …«
Sie waren vor dem Operationssaal angekommen. Jenny blieb vor ihrem Mitarbeiter stehen und nahm ihn ins Visier.
»Sie wissen, dass ich große Stücke auf Ihre Fähigkeiten als Arzt halte«, erklärte sie. »Was Ihre Loyalität den Kollegen gegenüber angeht, bin ich mir allerdings noch nicht so sicher. Deshalb möchte ich Ihnen nochmal ans Herz legen, dass mir Teamwork außerordentlich wichtig ist. Einzelkämpfer kann ich nicht brauchen. Was ich brauche, sind Ärzte, die sich mit Leib und Seele für ihre Patienten einsetzen und auch in der Lage sind, andere Meinungen und Behandlungsmethoden zu akzeptieren. Denn hier geht es nicht um Recht und Unrecht, um Karriere und Hierarchien. Hier geht es ganz allein um das Wohl unserer Patienten. Deshalb sind Ihre unterschwelligen Angriffe völlig unangebracht. Haben wir uns verstanden?«
Volker Lammers lag nicht nur ein Widerwort auf der Zunge. Da er es sich aber mit der Chefin nicht wegen eines unbedachten Ausspruchs verderben wollte, presste er die Lippen aufeinander und nickte stumm.
Jenny Behnisch dachte, dass die Sache damit vom Tisch wäre. Sie legte die Hand auf seinen Arm und lächelte.
»Es freut mich wirklich, dass ich Sie für uns gewinnen konnte. Sie haben beachtliche Erfolge erzielt«, sprach sie dem Kinderarzt noch einmal ihre Anerkennung aus, ehe sie sich verabschiedete und den Vorraum des Operationssaals betrat. Dr. Mario Cornelius und der Chef der Neurochirurgie standen nebeneinander am Waschbecken und unterhielten sich über den Eingriff.
»Faszinierend, wie es Ihnen gelungen ist, auch die Abszesswände zu entfernen«, bemerkte Mario eben, als die Chefin zu den beiden trat.
»Ehrlich gesagt hatte ich nicht zu hoffen gewagt, dass dieser Eingriff ganz ohne Komplikationen abgeht«, überging Professor Schultheiß das Lob des Kollegen. »Das ganze Team hat saubere Arbeit geleistet.«
»Das heißt, dass Lukas Claas wieder ganz gesund wird?«, mischte sich Jenny Behnisch in die Unterhaltung der beiden ein.
Die Gesichter, die sich ihr zuwandten, wirkten zufrieden.
»Mit letzter Sicherheit können wir das erst in ein paar Monaten sagen. Aber ich bin mehr als optimistisch.« Es war der Neurochirurg, der ihre Frage beantwortete.
Mario trocknete sich die Hände ab und legte den Arm um Jennys Schultern. Die Erleichterung über den guten Ausgang der Geschichte ließ ihn übermütig werden.
»Und das ganz ohne deine Unterstützung. Wenn das so weitergeht, bist du bald arbeitslos«, zwinkerte er ihr zu.
»Solange ich Mitarbeiter wie Volker Lammers habe, mache ich mir darüber keine Sorgen«, gab Jenny Behnisch schlagfertig zurück und ließ sich dann einen genauen Bericht über die gelungene Operation erstatten, damit sie den Eltern, die in einem der Aufenthaltsräume warteten, endlich die frohe Botschaft überbringen konnte.
*
Bevor Fee Norden die Klinik an diesem Abend verließ, sah sie noch einmal nach Marla. Um sich zu vergewissern, dass es Mutter und Baby gut ging, brachte sie wieder das fahrbare Ultraschallgerät mit.
»Hallo, Marla«, begrüßte sie die werdende Mutter, die im Bett lag und Löcher in die Decke starrte. »Bevor ich nach Hause gehe, wollte ich nochmal nach dir und Fynn schauen.«
Marla drehte den Kopf. Ihr gelang ein schmales Lächeln.
»Das ist nett von dir.« Sie griff nach dem Haltegriff über ihrem Bett und legte sich für die Untersuchung zurecht. »Stell dir vor, Pascal hat wunderbar reagiert. Er hat mir Mut gemacht, dass wir das alles schon schaffen werden.«
»Na, siehst du!«, freute sich Fee über diese Nachricht.