Im Namen des Kindes. Martina Leibovici-Muhlberger
des Kindes mit allen damit verbundenen Einschränkungen und Behinderungen des Lebenspotenzials aus. Die eigentlichen Bedürfnisse des Kindes werden in der Hitze des Gefechtes »ums Recht haben« übersehen, denn der Anwalt des Kindes fehlt vor Gericht.
Eine tragische Situation, denn aus jahrzehntelanger Praxis ist mir vertraut, dass in den allerseltensten Fällen böswilliges Kalkül am Werk ist, das die Verletzung des eigenen Kindes kaltherzig, im Wunsch, den Expartner bzw. die Expartnerin zu treffen, in Kauf nimmt. Vielmehr werfen sich hier »löwenherzige« Eltern in »die Schlacht um das Kind«, ein oft erbitterter Feldzug gegen einen vermeintlichen Schattenfeind, vor dem es gilt, das Kind zu schützen.
Mit diesem Buch wird die Absicht verfolgt, die Trennung/ Scheidung der Eltern als krisenhaften Lebensphasenübertritt für die betroffenen Kinder besser bewältigbar zu machen. Es geht hier also darum, den Kindern, ihren Bedürfnissen und Nöten Stimme zu verschaffen. Es ist das Ansinnen, Eltern und allen im jeweiligen Scheidungssystem miteinbezogenen Personen, also auch Großeltern, Freunden oder Pädagogen, konkrete Einsichten zu vermitteln, auf deren Basis Handlungsoptionen entstehen, die dem Kind Unterstützung dabei bieten, wieder sicheren Boden und Lebensbalance in der neuen Lebenssituation zu finden. Das »beste Wollen« soll zum »besten Tun« transformiert werden.
* Was sind die dringendsten Anliegen des Kindes bei der Trennung/Scheidung seiner Eltern?
* Was braucht ein Kind in dieser Zeit der Auflösung seiner gewohnten Familienverhältnisse?
* Was schadet und was nützt?
* Was ist besonders wichtig, dem Kind zu vermitteln?
* Wie gelingt es in einer Zeit des Umbruchs, glaubwürdig zu bleiben und dem Kind Nähe und Sicherheit zu vermitteln?
* Wie vermittelt man als Elternteil, wo man selber steht, ohne das Kind zu belasten?
* Was wünscht sich ein Kind, auch wenn es dies nie aussprechen würde?
* Wie ist kindliche Verhaltensauffälligkeit während der Trennung/Scheidung der Eltern zu deuten?
* Wann ist Beratung angezeigt?
* Was bedeutet ein neuer Partner bzw. eine neue Partnerin des Elternteils für das Kind?
Fragen über Fragen, die mit dieser herausfordernden Phase der Trennung/Scheidung verbunden sind – drängende Fragen, denn die Suche nach einer neuen Reiseroute in die Zukunft duldet keinen Aufschub.
Fragen, denen wir uns als Eltern und Gesellschaft im Sinne struktureller Weichenstellung also zu stellen haben. Fragen, deren Beantwortung wir nicht einfach dem Zufall oder der Entwicklung der Situation überlassen können, sondern für die wir verantwortungsvolle Bewusstheit auch unter Nachreihung unserer persönlichen und von aufgeregten Emotionen beeinflussten Interessen entwickeln müssen. Es ist hoch an der Zeit und in unserem eigenen tieferen Interesse, denn unsere Kinder sind die Basis der uns im Alter versorgenden Zukunftsgesellschaft.
In diesem Buch werden reale Kinder aus meiner beruflichen Tätigkeit, natürlich mit veränderter Namensidentität, mit ihrem Blickwinkel zu Wort kommen – es handelt sich vielfach um berührende Geschichten, so berührend, dass ich diesen Text schreiben musste ...
Wenn es gelingt, diese Kinder, ihren Empfindungskosmos, ihre tatsächlichen Bedürfnisse – die sich in ihrem Schweigen, ihren Zeichnungen, ihrem oft abstrus anmutenden Verhalten, ihren Erzählungen, ihrer Ratlosigkeit und ihren Versuchen einer Bewältigung verbergen – mit diesem Text Gestalt werden zu lassen, wenn es gelingt, dass sich damit tiefere Nachvollziehbarkeit für die beteiligten Erwachsenen für die wirklichen Anliegen der Kinder ergibt, dann ist die angestrebte Zielsetzung erreicht.
Dieser Text verzichtet deswegen auch nahezu vollständig auf die fundierte Wissenschaftssprache des Expertentums. Weiterführende Anmerkungen und Referenzierungen sind nur dort, wo sie absolut unverzichtbar erscheinen, eingestreut. Damit soll eine mögliche Irritation beim Lesen zugunsten empathischer Einfühlung in den jeweiligen Situationskontext vermieden werden. Hier sind die Kinder am Wort.
Immer wieder werden auch spezifische, recht schematisch anmutende Fragen an Eltern zu den behandelten Unterthemen rund um das Thema Scheidung gestellt. Diese Form wurde gewählt, um es Eltern zu erleichtern, von ihrem möglicherweise noch von schwelendem Streit belasteten Kommunikationsmodus möglichst weit Abstand zu gewinnen. Es handelt sich hier um anamnestische oder diagnostische, zumeist sehr neutral anmutende und im Grundsatz im Ergebnis auf das Kind ausgerichtete Fragen, deren Beantwortung jeder Elternteil für sich vornehmen kann. Sie können nicht als Türöffner in wechselseitige Vorwürfe verwendet werden, sondern in sehr auf das Kind bezogener Form, je nach ihrem Ergebnis, Handlungsbedarf demonstrieren.
Dies ist einerseits ein Versuch eines aktiven Brückenschlags in die jeweilige mögliche Trennungs-/Scheidungssituation des Lesers bzw. der Leserin und soll andererseits dazu beitragen, über das indirekte Auftreten des Kindes durch die Situationsanalyse bei Eltern über ihre persönliche Scheidungssituation hinweg kooperative Elternschaft zu initiieren.
Geleitwort eines Kindes
Liebe Mama! Lieber Papa!
Ich habe euch sagen hören, dass ihr das alles, was gerade geschieht, nie gewollt habt, und ihr euch früher, als ihr noch so richtig ineinander verliebt gewesen seid und ich in Mamas Bauch war, nicht vorstellen hättet können, dass so etwas einmal passieren könnte. Ich weiß, dass eure Scheidung für euch eine sehr schwere Zeit ist. Mama weint jetzt sehr oft oder ist furchtbar wütend, und Papa ist die meiste Zeit sehr ernst oder tut so, als hätte er furchtbar viel zu tun, damit ich nicht merke, dass auch er traurig ist.
Für mich ist diese Zeit auch sehr schwer. Das haben wir also alle drei gemeinsam. Aber sonst gibt es auch eine Menge Unterschiede zwischen eurer und meiner Situation, und das ist ziemlich bedeutungsvoll, zumindest für mich.
Irgendwie seid ihr beide zu der Überzeugung gekommen, dass ihr euch »enthebt« habt und nicht mehr miteinander zusammen leben könnt. Es ist also besser, habt ihr gesagt, dass Papa auszieht.
Für mich ist das mit dem Liebhaben ganz anders. Für mich hat sich da gar nichts geändert. Ich habe euch ganz genauso fest und stark lieb wie vorher, auch jetzt, nachdem ihr mir das mit dem sich »scheiden lassen« gesagt habt. Für mich wäre es eine super Lösung, wenn Papa zu mir ins Kinderzimmer ziehen würde. Dann könnte er sich von Mama scheiden lassen und wäre trotzdem bei mir. Sarah in meiner Kindergartengruppe findet das auch total richtig so. Aber ihr habt gesagt, dass das nicht geht.
Papa wird also weggehen, und für euch ist das logisch – für mich aber nicht. Ich will das nicht. Ihr seht also, wir haben da ziemliche Unterschiede in dem, was wir uns wünschen. Ihr würdet das Interessen nennen. Neben dem, dass ihr ja der Überzeugung seid, dass es die richtige Lösung ist, sich »scheiden zu lassen«, während ich das gar nicht so fühle, sind unsere Möglichkeiten, mit so einem großen Kummer umzugehen, ziemlich unterschiedlich.
Für euch ist ein Lebensplan, wie man so sagt, geplatzt, für mich mein ganzes bisheriges Leben. Ihr habt einander vor zehn Jahren als große Menschen mit Lebenserfahrung, wie Oma das nennt, kennengelernt und ineinander verliebt. Papa hat damals schon einen Bart gehabt und Autos konstruiert – und Mama war fast mit ihrer Universität, so heißt doch das alte Gebäude, fertig. Auf dem Hochzeitsfoto schaut ihr zwar viel jünger und fröhlicher aus, aber ihr seid schon richtige Erwachsene gewesen. Dann habt ihr diesen Lebensplan miteinander gemacht und ein paar Jahre später bin ich geboren worden. Und dann haben wir Merlin, unseren Kater, bekommen und sind in unser Haus gezogen.
Irgendetwas, das ich nicht verstehe, ist danach geschehen, denn jetzt ist das alles vorbei und ihr wollt ein anderes Leben, von dem ihr glaubt, dass es richtiger für euch und mich und natürlich Merlin ist. Ich kann das gar nicht so sehen wie ihr, mit diesem Blickwinkel, dass dieses Leben nicht mehr passt, und der Perspektive, dass ein neues Leben, in dem wir nicht mehr alle zusammen sind, besser sein soll. Denn dieses Leben ist das einzige, das ich kenne. Ich kann mir ein anderes Leben nicht so einfach vorstellen wie ihr. Da ist nur ein schwarzes Loch. Und ich habe auch noch keine Erfahrung, wie man mit so schwierigen Dingen